Wer nach Dresden schaut weiß, welches Außmaß an polizeilicher Überwachung heute technisch und offenbar auch politisch möglich ist.

"Die Dresdner Staatsanwaltschaft ist in Erklärungsnot. Sie ließ Namen von tausenden Demonstranten ermitteln. Im taz-Interview reagiert Oberstaatsanwalt Haase auf die Kritik.
taz: Herr Haase, in Sachsen Polizist zu sein, ist bestimmt nett. Da darf man alles, oder?
Lorenz Haase: Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Sächsische Polizisten sind ebenso an Recht und Gesetz gebunden wie Staatsanwälte und Richter.
taz: Dann erklären Sie doch mal, warum das sächsische LKA Namen, Adressen und Geburtsdaten von 40.000 Menschen gesammelt hat, die im Februar im Zusammenhang mit einer Großdemonstration telefoniert haben? ..."
TAZ, 26.07.2011

"Sachsens Grundrechte fließen weiter elbabwärts
Nach der von den verantwortlichen Sächsischen Staatsministern gehaltenen Pressekonferenz am 24. Juni werden immer mehr Details der umfassenden Telekommunikationüberwachung bekannt. So seien am 18. bzw. 19. Februar auf Grund mehrerer Ermittlungsverfahren insgesamt bis zu einer Millionen Datensätze gespeichert und ausgewertet worden. Das Ziel der völlig überzogenen Ermittlungen waren jedoch nicht nur einige wenige Straftaten von linken Demonstrantinnen und Demonstranten, sondern darüber hinaus auch mehrere zehntausend Bürgerinnen und Bürger die in unmittelbarer Nähe zu den Geschehnissen am 19. Februar telefoniert oder Nachrichten geschrieben hatten. Zahlreiche politisch Verantwortliche der Proteste kündigten in eigenen Stellungnahmen Beschwerden und Klagen gegen die Dresdner Staatsanwaltschaft und das zuständige Amtsgericht an. ...

Am Freitag hatte Sachsens Staatsregierung zur Pressekonferenz geladen, darin wurde den Medienvertreterinnen und Medienvertretern der Prüfbericht vorgestellt, den Innenminister Markus Ulbig (CDU) und Justizminister Jürgen Martens (FDP) noch am gleichen Tag Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) übergeben sollten. ...
Um die umfassende Funkzellenauswertung zu rechtfertigen, wurde die von der Polizei ursprünglich formulierte Begründung des "schweren Landfriedensbruchs" in den Terminus "versuchter Totschlag" geändert. Der Hintergrund ist, dass umfassende Überwachungsmaßnahmen wie am 19. Februar vom Gesetzgeber nur in Ausnahmefällen möglich sind. ...
In mindestens 45 Ermittlungsverfahren hatte die Polizei die Daten der digitalen Rasterfahndung an die Staatsanwaltschaft wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz weitergegeben, obwohl dies dem Gesetz nach nur im Zusammenhang mit Ermittlungen wegen schwerer Straftaten möglich ist. ...
Der Bericht liest sich wie eine Dokumentation eines totalitären Überwachungsstaates und hat die FAZ-Kolumnistin Constanze Kurz dazu veranlasst, Vergleiche mit den Zuständen in Teheran, Damaskus und Minsk zu bemühen, um die ganze Tragweite der Überwachungsmaßnahmen erfassen zu können. So hatte sich die Polizei schon vor drei Jahren für mehrere Millionen Euro eine Software gekauft, die in der Lage ist, "aus den digitalen Lebensspuren zehntausender potentieller Landfriedensbrecher in Dresden auf Knopfdruck Menschenprofile zu generieren". In einem ersten größeren Einsatz waren vor zwei Jahren nach dem Brandanschlag auf Fahrzeuge der Offiziersschule des Heeres die Daten zehntausender Menschen des Stadtteils Neustadt gespeichert und mit den Daten von fast 160.000 Kunden der Baumarktkette OBI verglichen worden. Die so gespeicherten Informationen haben bis heute weder einen Ermittlungserfolg gebracht noch wurden sie gelöscht. Die jüngsten Ereignisse lassen vermuten, so Kurz weiter, was in Zukunft zum Alltag in Ermittlungsbehörden wird, falls die vor dem Bundesverfassungsgericht bereits einmal gescheiterte und auf der Innenministerkonferenz in Frankfurt am Main kürzlich dennoch geforderte Vorratsdatenspeicherung Realität werden sollte...."
indymedia, 26.06.2011

Die Betroffenen schreiben dazu:

"Das Bündnis „Dresden-Nazifrei“ fordert den Rücktritt von Innenminister Ulbig
Gestern wurde der Dresdner Polizeipräsident Dieter Hanitsch versetzt. Er ist offensichtlich das Bauernopfer eines immer weiter Kreise ziehenden Datenskandals, bei dem nichts mehr unmöglich scheint. Echtzeitüberwachung, Weitergabe von Adressen, Verteilung der Daten an unterschiedliche Stellen, Abhören von Gesprächen ohne jeglichen Anfangsverdacht, was kommt jetzt noch alles auf die Dresdner BürgerInnen und die am 19. Februar 2011 angereisten DemonstrantInnen zu? Für uns ist jedenfalls klar, dass Innenminister Ulbig diesen Überwachungswahnsinn zu verantworten hat. Das Bündnis Dresden-Nazifrei fordert deshalb seinen Rücktritt.

Hausgemachtes Problem
Über ein Jahrzehnt wurde der Naziaufmarsch zum 13. Februar ignoriert und geradezu protegiert. Erst die Massenblockaden 2010 haben diesen Kreislauf durchbrochen und die Tatenlosigkeit der Verwaltung bloßgestellt. Das Bündnis Dresden-Nazifrei wurde mehrfach hart attakiert, bis hin zur absurden und brutalen Razzia am Abend des 19. Februar 2011. Busunternehmen wurden angeschrieben und zum Ausspionieren der BlockiererInnen aufgefordert, zahlreiche Menschen werden aktuell wegen „Blockadedelikten“ juristisch verfolgt. Die Eskalation des 19. Februar erscheint so weniger als Zufall, denn als Teil einer Delegitimationsstrategie. Dresden ist nun nicht mehr nur das Symbol für den gegen Rechtsradikalismus wehrhaften Bürger der von Stadt und Politik allein gelassen und kriminalisiert wird, es wird auch immer mehr zu einem Symbol des Kampfes gegen einen Überwachungsstaat, der völlig entgrenzt und abgekoppelt von öffentlicher und demokratischer Kontrolle ist.

Wir gehen gerichtlich gegen die FZA am 19. Februar vor
Nach dem publik gewordenen massiven Eingriff in die Grundrechte der Dresdner BürgerInnen und aller DemonstrantInnen, die mit uns gemeinsam am 19. Februar gegen Nazis Farbe bekannt haben, werden wir gegen die Maßnahmen von Polizei und Staatsanwalt vor Gericht gehen.
„Notfalls gehen wir durch alle Instanzen bis vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe“, erklärte Bündnisanwältin Kristin Pietrzyk anlässlich unserer Pressekonferenz in Berlin.

Albrecht Schröter (Oberbürgermeister von Jena / SPD): „Wir sind nicht in der DDR auf die Straße gegangen, um jetzt in einem Staat zu leben, wo so etwas möglich ist. Was da in Dresden passiert ist, war Rechtsbeugung. Ich werde alle rechtlichen Mittel ausschöpfen um das feststellen zu lassen.“"
Bündnis Dresden-Nazifrei, 28.06.2011

"Offenbar ganz Dresden überwacht
Es werden immer mehr: Das sächsische Innen- und Justizministerium räumt die Erfassung von über 1.000.000 Mobilfunk-Verbindungsdaten ein."
TAZ, 24.06.2011

"Hat die Polizei illegal abgehört?
Die Polizeiüberwachung der Antinazidemonstration am 19. Februar in Dresden war noch umfangreicher als bisher angenommen. An diesem Tag wurden nicht nur über eine Millionen Handyverbindungsdaten erfasst, gespeichert und ausgewertet. Nach taz-Informationen wurde vielmehr auch mindestens ein sogenannter Imsi-Catcher eingesetzt. Dieser kann Handys im Umkreis nicht nur genau orten, sondern auch in Echtzeit abhören. ...
Imsi-Catcher ahmen eine Funkzelle nach und zwingen alle Handys in einem Umkreis, der mehrere hundert Meter groß sein kann, sich bei ihnen einzuloggen. Damit hat die Polizei die komplette Kontolle über die Mobilfunkgeräte. Sie kann Gespräche abhören, Kurzmitteilungen mitlesen, die genaue Position bestimmen, aber auch eingehende Anrufe blockieren. Meist nutzt die Polizei für den Einsatz einen Kleinbus, mittlerweile gibt es aber auch mobile Geräte."
TAZ, 30.06.2011

Was ein IMSI-Catcher ist und wie man sich vor dieser Form der Handyüberwachung schützen kann, schreiben wir im Beitrag IMSI-Catcher.

"Sachsen reagiert, Bundestag debattiert
Der sächsische Justizminister will Unbeteiligte besser vor Handyüberwachung schützen. Er kündigt eine Bundesratsinitiative an.
Sachsens Justizminister Jürgen Martens (FDP) hat Konsequenzen aus dem sächsischen Skandal um Handyüberwachungen angekündigt. Bei der Abfrage von Funkzellen sollen künftig die "Belange von Unbeteiligten" besser berücksichtigt werden. ...
In Sachsen muss ab sofort der Datenschutzbeauftragte Andreas Schurig von jeder Funkzellenabfrage informiert werden. Auch wenn die Verkehrsdaten einzelner Anschlüsse über mehrere Wochen oder Monate abgefragt werden, muss Schurig kontaktiert werden und kann bei Bedarf protestieren. Darauf einigten sich vor wenigen Tagen das Justizministerium, der sächsische Generalstaatsanwalt und der Datenschutzbeauftragte. Ein Gesetz ist hierfür nicht erforderlich.
Andere Vorschläge betreffen die Strafprozessordnung (StPO), in der die Funkzellenabfrage geregelt ist (Paragraf 100g Abs. 2). ...
Martens will, dass schon bei der Anordnung einer Funkzellen-Abfrage die Interessen von zufällig erfassten Passanten und Anwohnern besser berücksichtigt werden. Genauere Vorschläge will eine von ihm eingesetzte Arbeitsgruppe bis zur nächsten Kabinettssitzung vorlegen.
Außerdem soll der Begriff der "Straftat von erheblicher Bedeutung" in der StPO präzisiert werden, zum Beispiel durch einen Straftatenkatalog. Nur bei Ermittlungen wegen "Straftaten von erheblicher Bedeutung" ist eine Funkzellenabfrage und die Weiterverwendung der Daten in anderen Gerichtsverfahren möglich. Als Ermittlungsansatz kann die Polizei die Daten aber auch in anderen Verfahren sowie zur Gefahrenabwehr nutzen.
Am wichtigsten ist der Vorschlag, einen neuen Richtervorbehalt für die Datenweitergabe einzuführen. "Wenn Daten nur mit richterlicher Genehmigung erhoben werden dürfen, dann sollten sie auch nur mit richterlicher Genehmigung für andere Zwecke benutzt werden dürfen", erklärte Martens. Derzeit kann die Polizei eine Zweckänderung vornehmen, ohne dass dies noch einmal unabhängig geprüft wird."
TAZ, 01.07.2011

"Handygate im Bundestag
Die Linke spricht von einem "rechtswidrigen Akt". Auch die FDP will nun eine Änderung der Gesetze. Unions-Politiker hingegen verteidigten die Datenauswertung."
TAZ, 01.07.2011

"taz-Mitarbeiter legen Beschwerde ein
Nach der massenhaften Dokumentation und Speicherung von Telefondaten in Dresden geht die taz juristisch gegen die Maßnahme vor. Sechs Journalisten der Zeitung legten am Donnerstag Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft Dresden ein. Sie sehen sich durch die Feststellung und Speicherung ihrer Kommunikationsdaten in ihrer Pressefreiheit eingeschränkt und wollen feststellen lassen, dass die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung rechtswidrig war.
'Die an der Maßnahme Beteiligten mussten wissen, dass zahlreiche Journalisten vor Ort beruflich tätig waren. Sie wussten auch, dass Journalisten damit trotz ihrer entgegenstehenden Grundrechte, die sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes ableiten, Objekt der angeordneten Maßnahmen werden würden', sagt der Rechtsanwalt der taz, Johannes Eisenberg. 'Wenn dies nicht beabsichtigt war, so wurde es zumindest in Kauf genommen. Insoweit besteht der Verdacht der Rechtsbeugung.'"
TAZ, 23.06.2011