Am 9. Februar 2023 wurde vor dem Amtsgericht Göttingen ein Vorfall verhandelt, der ziemlich genau ein Jahr zurücklag. Am Rande der damaligen Anti-Atom-Mahnwache am 7. Februar 2022 tauchte am Gänseliesel in Göttingen eine Clique von vier Männern einschließlich des in der Region bekannten Neonazis Jens Wilke auf. Die Teilnehmer*innen der Anti-Atom-Mahnwache äußerten ihren Unwillen über die als provozierend empfundene Anwesenheit der leicht alkoholisierten vier Männer. Als die vier Rechten zögerlich das Feld räumten, wurden sie – in einigem Abstand – von Frau X begleitet, die sich vergewissern wollte, dass die Störenfriede tatsächlich den empfohlenen Heimweg antreten. Die vier zugreisten Rechten wandten sich an eine ihnen zunächst im Auto folgende zweiköpfige Polizeistreife, die den Vorgang beobachtet hatte, und erstatteten Anzeige wegen Beleidigung. „Verpiss dich – du Nazischwein!“ wollen sie unter anderem gehört haben.

Ohne tiefergehende Ermittlungen wandelten die Göttinger Polizei und die Göttinger Staatsanwaltschaft diese Anzeige in einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls um. Dieser wurde vom Amtsgericht Göttingen in Höhe von stattlichen 40 Tagessätzen à 30 € erlassen. Auf den Einspruch von Frau X kam es jetzt am 9. Februar 2023 zur Hauptverhandlung in deren Rahmen zunächst die Polizeibeamtin vernommen wurde, die die Anzeige an Ort und Stelle aufgenommen hatte. Diese Zeugin hatte die behaupteten Beleidigungen jedoch nicht gehört.

Der anschließend vernommene Zeuge K versuchte schon bei den Angaben zu seiner Person eine Falschaussage zu produzieren: Er wohne in „Magdeburg“ gab der tatsächlich in der Gemeinde Sülzetal gemeldete Anzeigeerstatter zu Protokoll. Zur Sache bekundete der Zeuge K offenherzig, dass er in den vergangenen Jahren als rechter Aktivist an einer Vielzahl rechtsextremer Aufmärsche und Aktionen teilgenommen habe. Seine Angaben zur der angeklagten „Tat“ blieben indes vage und widersprachen zum Teil den Angaben der Polizeibeamtin, die seine Anzeige aufgenommen hatte. Jedenfalls sei er von Frau X „immer beleidigt“ worden gab der Zeuge K an. Der Verteidiger von Frau X, Rechtsanwalt Kahlen, arbeitete durch detaillierte Fragen heraus, dass Ziel des „Ausflugs“ der vier Rechten um Jens Wilke – wie schon in vergleichbaren vorgegangenen Aktionen – einzig und allein eine Provokation der Göttinger Zivilgesellschaft gewesen sein dürfte. Die Strafanzeige wegen Beleidigung war dann die Reaktion darauf, dass den vier „Gästen“ von den Kundgebungsteilnehmer*innen signalisiert worden ist, dass ihr Auftreten in Göttingen unerwünscht ist.
Da offenbar jetzt auch die Richterin die Angaben des Anzeigeerstatters K als nicht belastbar ansah, wurde die Beweisaufnahme ohne Vernehmung des potenziellen Zeugen Jens Wilke abgeschlossen. Auf übereinstimmenden Antrag von Staatsanwaltschaft und Verteidigung folgte ein klarer Freispruch für Frau X. Soweit – so rechtsstaatlich. Mit diesem Finale sind auch wir als Initiative „Bürger*innen beobachten Polizei und Justiz“ zufrieden.

Wir fragen uns allerdings, wieso die mit den hiesigen regionalen Verhältnissen durchaus vertraute Göttinger Staatsanwaltschaft den zugrundeliegenden Strafbefehl beantragt hat und warum die zuständige Strafrichterin ihn zunächst so offenbar bedenkenfrei erlassen hat. Der/die Strafrichter*in darf den Strafbefehl nämlich nur dann antragsgemäß erlassen, wenn er/sie nach Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft zu der Überzeugung gelangt, dass der/die Angeschuldigte die ihm/ihr zur Last gelegte Tat schuldhaft begangen hat. Ein „hinreichender Tatverdacht“ im Sinne einer für die Eröffnungsentscheidung nach § 203 StPO ausreichenden Wahrscheinlichkeit reicht nach zutreffender Ansicht nicht aus. Entscheidend ist vielmehr, dass der rechtskräftige Strafbefehl in jeder Hinsicht einem Urteil gleichsteht (§ 410 Abs. 3 StPO). Der Rechtsstaatsgrundsatz verlangt als Grundlage jeder Verurteilung im Strafverfahren daher nicht nur einen hinreichenden Tatverdacht, sondern eine Erkenntnis auf der Grundlage richterlicher Überzeugung. Nicht hinsichtlich dieser Anforderung, sondern allein hinsichtlich der Feststellung ihrer tatsächlichen Grundlage unterscheidet sich das Strafbefehls- vom Urteilsverfahren (KK-StPO/Maur, 9. Aufl. 2023, StPO § 408 Rn. 15).

Mangels Aktenkenntnis können wir diesen Vorgang nicht abschließend beurteilen. Die kritische Öffentlichkeit zeigte sich indes nach dem Prozess irritiert darüber, dass haltlosen Anschuldigungen einer Nazi-Clique so einfach zum Erlass eines Strafbefehls über satte 40 Tagessätze geführt haben. Es gab von Anfang an weder Sachbeweise noch unabhängige Zeugen*innen der „Tat“. Staatsanwaltschaft und Gericht haben sich bei Erlass des Strafbefehls schlicht auf die Seite der rechten Provokateure geschlagen. Dieser Fehler musste jetzt von der Strafrichterin mit großem zeitlichen Aufwand und nicht unerheblichen Kosten für den/die Steuerzahler*in ausgebügelt werden.