Pressemitteilung der „BürgerInnen beobachten Polizei und Justiz" vom 21.9.2012

Am 20. September 2012 wurde ein 25-jähriger Student vom Göttinger Amtsgericht von dem Vorwurf der Körperverletzung und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte frei gesprochen.

Was wie ein Lehrstück für funktionierende Rechtsstaatlichkeit erscheinen mag, wirft aus unserer Sicht dennoch Fragen auf: Warum ist das von der Polizei zur Dokumentation des Einsatzes gedrehte Video erst am Tag der Hauptverhandlung "aufgetaucht"? Sollte vermieden werden, dass es als Bestandteil der Ermittlungsakte der Verteidigung zugänglich wird? Warum wurde die vor Gericht wie ein Kartenhaus zusammfallende Anklage überhaupt erhoben, wenn doch eine kritische Würdigung aller Beweismittel - also auch des Videos -
den Schluss nahegelegt hätte, dass hier keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung besteht?

Unsere ProzessbeobachterInnen zeigten sich darüber hinaus befremdet über die drastischen Sicherheitvorkehrungen, für die ein greifbarer Anlass nicht erkennbar war:

„Die ganze Verhandlung ging ruhig und geordnet über die Bühne, so dass die zahlreichen mit Schutzwesten und Handschuhen ausgestatteten Justizbeamten sowie die massiven Polizeikräfte vor dem Gericht deplaziert wirkten. Eine unabhängige Justiz, die in der Lage ist, eine kritische Distanz zu den Verurteilungswüschen der Polizei zu wahren, hätte einen solchen martialischen Auftritt nicht nötig",

kommentierte ein Sprecher der Göttinger Bürgerrechtsgruppe.

Laut Anklageschrift soll der Student im Rahmen einer Protestkundgebung gegen Innen¬minister Schünemann und Polizeipräsident Kruse im ZHG am 10. Januar 2012 einen Kniestoß in die Genitalien eines Brauschweiger Bereitschaftspolizisten ausgeführt haben. Dieser Kniestoß soll Ursache für eine mehrtägige Dienstunfähigkeit des Polizisten gewesen sein.

Je eine von der Anwältin des Angeklagten und von der Polizei erst am Morgen der Haupverhandlung in das Verfahren eingeführte Videoaufzeichnung des fraglichen Zeitraums zeigten übereinstimmend den Angeklagten und den als Zeuge aussagende Polizist, die in eine wechselseitige Drängelei verstrickt waren. Beide Filme widerlegten aber den behaupteten Kniestoß. Gleichwohl beharrte der Polizeizeuge darauf, dass es den Kniestoß im Rahmen der dokumentierten Situation gegeben habe. Dies wollte aber weder das Gericht noch die Vertreterin der Staatsanwaltschaft glauben, da der verletzte Polizist an der fraglichen Stelle im Video keinerlei Reaktion (wie etwa ein Zusammenkrümmen, ein Ausweichen oder ein schmerzverzerrtes Gesicht) erkennen ließ. Offensichtlich ereignete sich die Verletzung des Beamten zu einem anderen Zeitpunkt. Der Freispruch war daher nur folgerichtig.