Bürger*innen beobachten Polizei und Justiz

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Demobeobachter*innen erringen vor Gericht einen wichtigen Sieg:
Warum nicht alle in einen Topf (Kessel) geworfen werden dürfen …

Mit Beschluss vom 11.08.2022 hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Az. VGH 1 S 326/22) ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10.11.2021 (Az. 5 K 2034/20) bestätigt. Dieses hatte festgestellt, dass diverse polizeiliche Maßnahmen (u.a. Feststellung der Personalien, Durchsuchung und Erteilung eines Platzverweises) gegen zwei Demobeobachter*innen rechtswidrig gewesen sind.

Was war die Ausgangssituation?


Zwei Mitglieder der Bürgerrechtsorganisation „Demobeobachtung Südwest“, einer Organisation, die sich für die Stärkung eines weit gefassten Demonstrationsrechts einsetzt, hatten am 25.05.2019 eine Demonstration „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ (in der Türkei) beobachtet. Nach deren Ende waren die Demobeobachter*innen einer Gruppe junger Leute in der Annahme gefolgt, es könne sich um Menschen handeln, die zuvor an der Demonstration teilgenommen hatten. Kurz darauf wurden diese jungen Leute von der Polizei eingekesselt.

Wie hat die Polizei agiert?


Die beiden Demonstrationsbeobachter*innen wurden von der Polizei kurzerhand mit eingekesselt. Als die Beobachter*innen den Kessel unter Hinweis auf ihre Rolle als unbeteiligte Beobachter*innen verlassen wollten, wurde ihnen dies vom Einsatzleiter verweigert. Sie mussten sich abfilmen und bis auf den Geldbeutelinhalt durchsuchen und abtasten lassen.

Was hat das Verwaltungsgericht entschieden?


Das Gericht hat festgestellt, dass sich die Polizei damit rechtswidrig verhalten hat. Gegen die beiden Demonstrationsbeobachter*innen durften keine polizeilichen Maßnahmen durchgesetzt werden, weil die Beobachter*innen den Polizeieinsatz nicht „gestört“ haben und es auch nicht so aussah als könnten sie ihn stören (keine „Anscheinsstörer“). Dafür, dass die Beobachter*innen ihre Rolle verlassen und sich mit der Gruppe der Demonstrierenden solidarisiert bzw. diese unterstützt haben, habe es an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten gefehlt. Denn allein das Stehen der Beobachterinnen bei der eingekesselten Gruppe reiche für diese Annahme nicht aus. Die Demobeobachter*innen hätten sowohl äußerlich als auch durch ihr Handeln jeden Anschein einer Unterstützung vermieden. Sie hätten soweit ersichtlich jede Interaktion mit den Mitgliedern der Gruppe unterlassen und seien durch ihre bedruckten Warnwesten durchgängig als nicht zur Gruppe gehörig zu erkennen gewesen. Darüber hinaus hätten sich die Beobachter*innen innerhalb des Polizeikessels an der Wand des Gebäudes stehend und damit am Rand positioniert.

Welche Folgerungen sind daraus für uns Demobeobachter*innen zu ziehen?


Es entspricht auch unserer in Göttingen gepflegten Praxis, deutlich zwischen der Rolle als Demoteilnehmer*in und Beobachter*in zu unterscheiden. Auch wenn wir gelegentlich mit den Zielen der von uns begleiteten Kundgebungen sympathisieren, schützen wir uns und unsere Funktion, wenn wir die jeweils angemessene räumliche Distanz zur Kundgebung wahren und mit den Demonstranten*innen allenfalls über technische Aspekte des Demonstrationsgeschehens (Verlauf der Demoroute? Auflagen der Versammlungsbehörde? Behinderungen oder gar Übergriffe durch die Polizei?) kommunizieren. Eine nach außen sichtbare Solidarisierung mit den Demoteilnehmer*innen würde der Polizei im Konfliktfalle den willkommenen Vorwand liefern, uns mit „einzukassieren“.

Was muss sich bei der Polizei ändern?


Die Polizei muss endlich flächendeckend und in allen Hierarchieebenen akzeptieren, dass die bürgerrechtliche Polizei- oder Demobeobachtung, wie sie durch uns und unsere Schwestergruppen praktiziert wird, das selbstverständliche Ausüben von Grundrechten in einem Rechtsstaat darstellt. Wir beanspruchen keine „Sonderrechte“, sondern machen von den Rechten Gebrauch, die für uns im Grundgesetz verbürgt sind. Die Polizei hat dagegen im Umfeld öffentlicher Versammlungen kein „Recht“ darauf, ihre Maßnahmen vor den Augen der Öffentlichkeit zu verstecken. Soweit sie im Rahmen ihrer Eingriffsbefugnisse und unter steter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes agiert, hat sie von unserer Seite nichts zu befürchten. Wenn die Polizei jedoch über die Stränge schlägt, indem sie das Versammlungsrecht anlasslos verkürzt oder Demoteilnehmer*innen mit unrechtmäßigen Maßnahmen einschüchtert, muss sie damit rechnen, dass diese Vorfälle von uns dokumentiert und ggf. einer gerichtlichen Klärung zugeführt werden. Die Durchsetzung dieses bürgerrechtlichen Anliegens wird durch die besprochenen Gerichtsentscheidungen aus Baden-Württemberg unterstützt.

Anlässlich dieses wichtigen Urteils möchten wir grundsätzlich erneut darauf hinweisen, dass in den „Empfehlungen für OSZE-Teilnehmerstaaten“ zur Versammlungsfreiheit (Abschnitt „Über den Zugang und die Einschränkungen für Medien und unabhängige Beobachter*innen“) ausdrücklich von der Exekutive erwartet wird, eine Beobachtung nicht nur zu dulden, sondern sogar "aktiv die unabhängige Beobachtung und Berichterstattung über die Ermöglichung von Versammlungen und den Schutz der Versammlungsfreiheit durch internationale und lokale Beobachter*innen zu unterstützen".

 

Zum Weiterlesen

Bericht auf der Seite Demobeobachtung Südwest
Presseerklärung der Kanzlei Sven Adam