Im Beitrag „Atmosphäre der Hörigkeit” der Stuttgarter Online-Wochenzeitung Kontext erklärt Rafael Behr, 15 Jahre Polizeibeamter und heute Professor an der Hochschule der Polizei in Hamburg, warum PolizistInnen nicht gegen KollegInnen aussagen und warum er für eine individuelle Kennzeichnung ist. Auch das Selbstverständnis von PolizeibeamtInnen innerhalb der Gewaltenteilung, ihr Verhältnis zu Demonstrierenden und das periodisch wiederkehrende Beklagen steigender Gewalttaten gegen PolizistInnen beleuchtet Behr:
Prinzipiell gilt ein Ehrenkodex in der Kultur der Polizei: Kollegen werden weder an Vorgesetzte verraten noch anderen Instanzen ausgeliefert. Die Loyalität untereinander ist größer als die gegenüber der Integrität der Polizei.
Viele Polizisten bedienen sich eines Kompromisses. Sie sagen: Nichts gesehen, gehört, gerade weggeguckt, nicht genau gesehen. Sie bedienen sich, moralisch gesehen, einer Halbwahrheit oder Halblüge, um Kollegen zu schützen. Menschlich verständlich, rechtsstaatlich beschämend.
In der Welt der Polizei, so weit ich die überblicke, ist es so, dass sie sich nicht als Teil des Rechtssystems sieht, wenn man die Rechtsprechung in dieses System einbezieht. Polizisten wissen, dass das Rechtssystem das, was sie erleben, nicht abbildet. Nicht gerecht in ihrem Sinne ist. Sie fühlen sich nicht als Kollegen der Richter und Staatsanwälte, sondern diesen ausgeliefert. Das lässt sie die Reihen enger schließen.
Früher waren Gewalttäter und Demonstrant Synonyme. Nach der Friedensbewegung, der Anti-AKW-Bewegung, Startbahn West, diesen Massenbewegungen, hat sich die Figur des Demonstranten differenziert. Aber wir haben immer noch Stereotypen, etwa den gewaltbereiten Linksautonomen.
(Wenn CDU-Mitglieder demonstrieren, Bürger, Rentner, Anm.: sinnerhaltend umformuliert) wird es schwierig, denn es entsteht so eine Art „Erfahrungs-Wahrnehmungs-Widerspruch”, der sich nur mit Ausblendungen bearbeiten lässt. Ich hab mal einen Studenten der Hochschule der Polizei gefragt, was er da macht. Antwort: „Ist mir egal, wie alt ein Demonstrant ist, wenn ich ihn drei Mal auffordere zu gehen, und er ist immer noch da, ist das ein Straftäter.” So funktioniert das: Die Polizei macht aus Demonstranten Straftäter, durch Nichtbefolgung polizeilicher Weisungen. Der Fakt, dass der Demonstrant Mitte siebzig ist, mal Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofs war, verschwindet. Befolgt der Demonstrant die polizeiliche Weisung nicht, setzt das eine Eskalation in Gang. Der Rechtsstatus des Demonstranten ändert sich, weil die Polizei das so konstruiert.
Juristisch müssen (StaatsanwältInnen den beschuldigten PolizeibeamtInnen, Anm.) einen Vorsatz nachweisen. Polizisten wird in Ausübung ihrer Arbeit oft unterstellt, dass falsche Lageeinschätzung, Überforderung, Stress für das Handeln ursächlich waren. So kommen sie zu Fahrlässigkeit. Schwieriger als die Herabqualifizierung des Straftatbestands finde ich allerdings die Einstellung von Verfahren wegen fehlender Identifizierbarkeit von Polizisten. Man weiß, von den zwanzig Polizisten waren es drei, kann sie aber nicht identifizieren: Helm auf, Panzerung. Im Zweifel für den Angeklagten. Deshalb bin ich für eine individuelle Kennzeichnung von Polizisten.
Die Sprache des Polizeiberichts ist bei verletzten Polizisten eine andere als bei verletzten Demonstranten. Bei Verletztenzahlen muss man sehr genau hinschauen. Ich führe das vor allem auf eine höhere Sensibilität zurück, damit verschieben sich viele Taten vom Dunkelfeld ins Hellfeld. Im Übrigen ist da viel Lobbypolitik der Polizeigewerkschaften dabei, die darauf setzen, dass, je höher die Opferzahlen sind, das Mitleid der Bevölkerung steigt. Damit werden andere Themen vermieden. Polizeigewalt und Kennzeichnungspflicht werden von Wissenschaft, Medien, Politik diskutiert. Diese Debatte wird durch steigende Opferzahlen bei der Polizei vermieden.
Behrs Interpretationen passen exakt zur Polizei-Berichterstattung über die Vorkommnisse am 12.10.2013 in Göppingen. In der Stellungnahme der Polizei ist die Rede von linksextremistischen gewaltbereiten Demonstrant*innen. Die „Demobeobachung Südwest”, welche vor Ort war, hat aber keine gesehen:
Wir konnten keinen Fall von Gewalt seitens der Demonstrant*innen beobachten, der diese polizeiliche Gegengewalt erklären könnte. Die Demonstrant*innen hatten im Vorfeld der Demonstration den Konsens gefasst, dass von ihnen keine Eskalation ausgehen sollte. Selbst wenn dieser Konsens von uns unbeobachtet verletzt worden sein sollte, so können wir zumindest sicher sagen und belegen, dass es im Vorfeld des größten Kessels in der Schlossstraße Ecke Lange Straße keine Gewalt gegeben hat.
Der Polizeibericht beklagt außerdem dass eingesetzte BeamtInnen verletzt wurden – bezeichnenderweise wortgleich wie im Jahr zuvor:
12.10.2013: „Es macht mich sehr betroffen, dass Polizeibeamtinnen und -beamte bei der Ausübung ihrer Aufgaben verletzt worden sind. Es zeigt einmal mehr, dass Gewalttäter die direkte Konfrontation mit der Polizei suchen”, so der Göppinger Polizeichef.
06.10.2012: „Es macht mich sehr betroffen, dass Polizeibeamtinnen und beamte bei der Ausübung ihrer Aufgaben verletzt worden sind. Es zeigt einmal mehr, dass Gewalttäter die direkte Konfrontation mit der Polizei suchen und die Einsatzkräfte gezielten Angriffen ausgesetzt ist”, so der Göppinger Polizeichef.