Urteile rund um Versammlungs- und Polizeirecht
Aufgrund eines Runderlasses des niedersächsischen Innenministeriums vom 1.8.2012 schreiben Polizeidienststellen in Niedersachsen im Anschluss an Versammlungen so genannte „Verlaufsberichte“. Diese werden über einen großen E-Mail-Verteiler an verschiedene andere Polizeidienststellen des Landes, an das Lagezentrum im niedersächsischen Innenministerium und in nicht wenigen Fällen auch an den Landesverfassungsschutz weiter geleitet.
Jahrelang war es Praxis darin persönliche Daten der AnmelderInnen von Versammlungen aufzulisten: Namen, Adressen und teilweise auch Telefonnummern liefen so über Dutzende Schreibtische und Bildschirme. Auch kleine und in den bekannten Fällen (in Göttingen und Hannover) fast ausnahmslos völlig friedliche Versammlungen waren betroffen. Zusätzlich fanden sich in einigen Fällen eine Auflistung der bei den Versammlungen anwesenden PressevertreterInnen.
Auch aus Berlin sind ähnliche Fälle bekannt geworden.
Gegen diese Missachtung des Grundrechts auf Versammlungfreiheit und elementarer Datenschutzrechte erhoben insgesamt fünf Betroffene aus Göttingen Klage. Diese hatten nun Erfolg:
Bereits im Oktober 2012 stellte das OVG Koblenz unmissverständlich klar, dass die „Racial Profiling” genannte Praxis der Polizei, bei der Menschen mit einem als nicht „typisch deutsch” verorteten Aussehen gezielt kontrolliert werden, unzulässig ist.
Racial Profiling beruht auf der Annahme, dass nicht „deutsch” Aussehende signifikant häufiger in kriminelle Handlungen verwickelt sein sollen als von Geburt an „deutsch” Aussehende. Diese Annahme stellt leicht erkennbar eine rassistische Diskriminierung dar, das gerichtliche Verbot ist also folgerichtig. Racial Profiling verstößt gegen das Grundgesetz und gegen europäische und internationale Menschenrechtsverträge, stellte das Gericht klar.
Die alltägliche Praxis, die sich in Presseberichten niederschlägt und die wir leider aus eigenen Beobachtungen bestätigen müssen, ist aber, dass das gerichtliche Verbot dieser systematischen Diskriminierung flächendeckend ignoriert wird. Auch in Göttingen.
Dieser fortwährende Verfassungsbruch durch PolizeibeamtInnen zeigt, dass rasisstische Ressentiments nach wie vor fest in den Köpfen vieler BeamtInnen verankert sind. Die Nichtexistenz erkennbar wirksamen Gegensteuerns innerhalb der Polizeistrukturen zeigt aber auch, dass der Polizeiapparat als solcher noch weit davon entfernt ist, sich vom institutionellen Rassismus zu verabschieden, der sich in seiner mörderischsten Gestalt in den Fehlermittlungen bei der rassistischen Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds” zeigte.
Das systematische Ignorieren des gerichtlichen Rassismusverbots für die Polizei verdeutlicht der Artikel „Diskriminierende Kontrollen” in der Frankfurter Rundschau (s.u.). Dort wird die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) mit den Worten zitiert:
„Die Gerichte machen schöngeistige Rechtspflege, aber richten sich nicht an der Praxis aus.”
„Mit anderen Worten: Uns doch egal, ob wir gegen das Grundgesetz verstoßen – wir machen einfach so weiter wie bisher”, schlussfolgert der Artikel.
Für bestimmte Formen von Sitzblockaden hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass diese keine Nötigung und somit keine strafbare Handlung darstellen. Vielmehr sind Sitzblockaden mit vorwiegendem "Kommunikationszweck" durch das Versammlungsrecht gedeckt, urteilten die BundesrichterInnen.
Aus der Pressemitteilung der Bundesverfassungsgerichts zum Urteil:
"Dass die Aktion die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestimmte politische Belange bezweckte, lässt den Schutz der Versammlungsfreiheit nicht entfallen, sondern macht die gemeinsame Sitzblockade, die somit der öffentlichen Meinungsbildung galt, erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. (...)
Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist des Weiteren, dass das Landgericht bei der Abwägung die Dauer der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, die Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports sowie die Anzahl der von ihr betroffenen Fahrzeugführer gänzlich außer Betracht gelassen hat."
Das Urteil im Wortlaut, 07.03.2011, Aktenzeichen 1 BvR 388/05
Pfeffersprayeinsatz als Körperverletzung
Schuldig: Der Uetersener Polizist P. ist der gefährlichen Körperverletzung im Amt schuldig gesprochen - und zur Mindesstrafe von 90 Tagessätzen á 70 Euro verurteilt worden. ...
Zwei Dinge seien für die Urteilsfindung zu hinterfragen gewesen, so die Amtsrichterin. Zuerst einmal müsse so ein Reizgaseinsatz angekündigt werden. Von der Ankündigung höre sie hier in der Verhandlung zum ersten Mal. Sie tauche weder im Polizeibericht noch in den Protokollen der ersten Vernehmungen beider Polizisten auf. Es habe ihn keiner explizit danach gefragt, erklärte P.s Polizeikollege. Üblicherweise werde die Zwangsmittelandrohung im Einsatzbericht nicht aufgenommen, merkte P. an.
Ein anderer Fakt sei aber für die Verurteilung ausschlaggebend gewesen, so die Richterin: dass keine Notwehr vorlag. Der Sprayeinsatz mute ihr wie eine vorbeugende Maßnahme an, die aber nicht zu rechtfertigen sei. Es habe nicht einmal den Versuch einer körperlichen Festnahme gegeben.
Schleswig-Holsteinische Zeitung, 07.06.2011 (Der Artikel ist online nicht mehr verfügbar)
Gleicher Fall, andere Zeitung:
"Pfefferspray-Einsatz: Polizist soll 6300 Euro Geldstrafe zahlen
Beamter wegen versuchter Körperverletzung verurteilt. Polizeiamt beklagt „falsches Signal“, Gewerkschaft will Revision einlegen.
Empörung und Verunsicherung bei der Polizei im Norden: Das Amtsgericht in Elmshorn (Kreis Pinneberg) hat einen Beamten zu einer Geldstrafe in Höhe von 6300 Euro verurteilt, weil er einem 27-Jährigen Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Der Mann hatte wegen versuchter Körperverletzung gegen den Polizisten geklagt – und das Gericht gab ihm Recht. Das Landespolizeiamt in Kiel spricht von einem „falschen Signal“. Die Gewerkschaft der Polizei beklagt gar einen Dammbruch: „Sollen sich Polizisten künftig lieber verprügeln lassen, bevor sie zum Pfefferspray greifen?“, fragt GdP-Landesgeschäftsführer Karl-Hermann Rehr."
Lübecker Nachrichten, 11.06.2011
Aussehen wie ein Linker ist kein Kontrollgrund, 15.12.2010
Link zum Urteil im O-Ton: Rechtswidrigkeit einer Identitätsfeststellung auf dem Weg zu einer Versammlung
Aktenzeichen 1 A 313/08, VG Göttingen
Ist eine Personalienfeststellung rechtswidrig, so ist es kein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, wenn man sich dagegen wehrt, 16.01.2007
Aktenzeichen: 33 Cs 34 Js 23625/06 (746/06), AG Göttingen
Hintergrunde des Urteils hier lesen.
Rechtswidrige Videobeobachtung friedlicher Versammlung, 29.11.2010
Aktenzeichen 5A 2288/09, OVG Münster
Die Beobachtung einer Versammlung durch die Polizei mittels Kameras und die Übertragung der Bilder in die Einsatzleitstelle ohne die Einwilligung der Versammlungsteilnehmer stellt einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Dies gilt auch, wenn keine Speicherung der Bilder erfolgt, 05.07.2010
Aktenzeichen: 1 K 905.09, VG Berlin
Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24.09.2015 (11 LC 215/14, Nds. Rechtspflege 2015, S. 385 – 388) bestätigt Rechtswidrigkeit polizeilichen Handelns bei Antifa-Demo im Januar 2012 in Bückeburg
Die Strafbarkeit eines Verstoßes gegen das Vermummungsverbot nach den NVersG setzt voraus, dass die Rechtswidrigkeit der Vermummung zuvor durch einen die Verhaltenspflicht konkretisierenden Verwaltungsakt festgestellt worden ist.
Dies bedeutet, dass die Polizei, bevor sie irgendwelche Maßnahmen aufgrund vermummter Personen innerhalb einer Versammlung oder Demonstration ergreift, eine Aufforderung zum Ablegen der Vermummung zu erlassen hat.
Beschluss des OLG Celle 32 Ss 6/11, 04.5.2011
Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.02.2011:
"Von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen in Privatrechtsform unterliegen ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren Grundrechtsbindung. (...)
Deshalb kann das Verbot des Verteilens von Flugblättern insbesondere auch nicht auf den Wunsch gestützt werden, eine „Wohlfühlatmosphäre“ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt. Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf (...). Unerheblich sind folglich Belästigungen Dritter, die darin liegen, dass diese mit ihnen unliebsamen Themen konfrontiert werden. Erst recht ausgeschlossen sind Verbote zu dem Zweck, bestimmte Meinungsäußerungen allein deshalb zu unterbinden, weil sie von der Beklagten nicht geteilt, inhaltlich missbilligt oder wegen kritischer Aussagen gegenüber dem betreffenden Unternehmen als geschäftsschädigend beurteilt werden."
Aktenzeichen 1 BvR 699/06