Pfefferspray - eine potentiell tödliche Waffe der Polizei

Der Bundestag wird sich auf Empfehlung des Petitionsausschusses nicht weiter mit der Petition zur Einschränkung des Einsatzes von Pfeffersprays beschäftigen. Dies teilte die Vorsitzende des Petitionsausschusses, Kersten Steinke, am 14. April 2014 abschließend mit (Ablehnungsbescheid - PDF).

In ihrem Ablehnungsschreiben wird zunächst das Anliegen so zugespitzt dargestellt als hätte die Petition (PDF) in erster Linie das Anliegen gehabt, Reizgas mit Schusswaffen gleich zu setzen. Danach wird geschildert, dass sich neben dem Petitionsausschuss auch der Innenausschuss mit dem Anliegen den „Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei massiv (zu) beschränken” beschäftigt hat. Die Antwort klingt allerdings nicht nach einer vertieften Neubewertung der Lage. Vielmehr wird auf bekannte Vereinbarungen wie das Gesetz über den unmittelbaren Zwang (UZwG), den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und vorangegangene Diskussionen im Innenausschuss und im Bundestag verwiesen.

An keiner Stelle wird anerkannt, dass durch Pfefferspray sehr wohl massive Verletzungen verursacht werden können, die nicht nur im Moment der Anwendung sondern auch darüber hinaus zu massiven Schäden führen können (besonders, aber nicht nur für AsthmatikerInnen). Der Hinweis auf mindestens 3 Todesfälle in Deutschland in Zusammenhang mit der Anwendung von Pfefferspray wird ohne weitere Recherche vom Tisch gewischt. Sogar das Anliegen, wenigstens nach schonenden Alternativen zu forschen, wird abgelehnt.

Im Bescheid deutet der Petitionsausschuss die begrenzte Eignung von Pfefferspray selbst an: „Im Ergebnis der Untersuchungen wurde festgestellt, dass Pfefferspray ein geeignetes Einsatzmittel ist, und dass bei bestimmungsgemäßer Exposition von gesunden Personen in der Regel keine bleibenden gesundheitlichen Schäden zu erwarten sind.”

In der Petition zur Einschränkung von Pfefferspray geht es gerade um die alarmierenden Erfahrungen, dass Pfefferspray:

  • eben nicht „bestimmungsgemäß” (zurückhaltend, in Notwehr, bei Untauglichkeit schwächerer Mittel und gezielt nur gegen einzelne Personen) verwendet wird, sondern häufig, wenn nicht sogar „in der Regel”, als billiges Mittel gegen eine Vielzahl von VersammlungsteilnehmerInnen
  • nicht nur gegen „gesunde Personen” (sondern auch bei Asthma, Allergie, Medikamenten und gegen Kinder) eingesetzt wird,
  • TrägerInnen von Kontaktlinsen generell stark gefährdet sind, bleibende Schädigungen zu erleiden und
  • dass es jenseits von „in der Regel” zu viele bekannt gewordene Fälle gibt, in denen Pfefferspray eben doch bleibende Schäden verursacht.

Antworten auf diese Gefahren bleibt die Ablehnung der Petition schuldig.

Der Einsatz von Pfefferspray soll eingeschränkt werden, damit Pfefferspray nicht mehr ständig, in Massen, als Einschüchterung von VersammlungsteilnehmerInnen, ohne Gefahrenlage und gegen Beteiligte wie Unbeteiligte eingesetzt wird. In der Praxis erleben wir u.a. auf Demonstrationen immer wieder, dass Pfefferspray großflächig oder auch mit massivem Strahl in Gesichter eingesetzt wird als handele es sich bei Pfefferspray um eine harmlose Substanz wie Limonade.

Auch wenn Pfefferspray gegenüber dem Einsatz von Schusswaffen wesentlich geringere Schäden anrichtet, ist es eben nicht harmlos! Pfefferspray ist daher für häufigen und massiven Gebrauch nicht geeignet.

Daher fordern wir nach wie vor die starke Beschränkung von Pfefferspray als Waffe, die nur eingesetzt werden darf, wenn:

  • weniger gewalttägige Mittel versagt haben oder sicher aussichtslos wären,
  • wenn die Gefahrenlage tatsächlich erkennbar so hoch ist, dass Pfefferspray dazu dient, den Schusswaffengebrauch zu vermeiden,
  • die Beeinträchtigung von kranken, eingeschränkten, sehr jungen, kleinen oder unter Medikamenteneinfluss stehenden Personen ausgeschlossen werden kann,
  • wenn tatsächlich ausgeschlossen werden kann, dass unbeteiligte Dritte ebenfalls getroffen werden und
  • der Einsatz des Pfeffersprays als Mittel mit erheblicher Gewalteinwirkung dokumentiert und damit der gerichtlichen Prüfung im Nachgang unterworfen wird.

Einige Großeinsätze der Polizei, die überregional Empörung hervorriefen – wie z.B. der Schwarze Donnerstag am 30.9.2010 im Stuttgarter Schlosspark oder der Angriff auf die Blockupy-Demonstration am 1.6.2013 in Frankfurt am Main – führten es einer größeren Öffentlichkeit vor Augen:

Seit Jahren ufert die skandalöse Praxis der Polizei immer weiter aus, unliebsame Demonstrationen und Sitzblockaden mit Pfefferspray anzugreifen und aufzulösen. Wahllos wird dabei aus mehreren Metern Abstand in die Menge gehalten, teilweise mit feuerlöschergroßen Sprühgeräten. Unser Beitrag „Eine potentiell tödliche Polizeiwaffe "zwischen Schusswaffe und Schlagstock"“ illustriert dies anschaulich.

Dabei wird bewusst eine ernsthafte Gefähr­dung von Menschen, ein­schließ­lich blei­bender Augen­verletzungen bei Kontakt­linsen­trägerInnen, lebens­bedroh­licher Atem­notanfälle bei chronischen Atem­wegs­erkrank­ungen wie Asthma bis hin zur Gefahr eines ana­phylak­tischen Schocks bewusst in Kauf genommen. Etliche Todesfälle in Folge eines Pfeffer­spray­einsatzes sind dokumentiert, insbesondere im Zusammenhang mit starken Beruhigungsmitteln, Psychopharmaka und Drogen. Eine systematische Untersuchung und Statistik gibt es nicht, es existiert ein Dunkelfeld.

Auf diese Gefahren werden in den bereits im Jahr 2008 herausgegebenen polizeiinternen „Handhabungshinweisen für Reizstoffsprühgeräte mit Pfefferspray“ des „Polizeitechnischen Instituts der Deutschen Hochschule der Polizei“, die für die Polizeien der Länder und des Bundes gültig sind, deutlich hingewiesen.  ([1], Abschnitt „Strengste Vorschriften für den Einsatz von Pfefferspray“ ff.)

Darin werden auch die notwendigen Maßnahmen zur Nachversorgung ausführlich beschrieben. Regelmäßige Praxis ist aber, dass bei Demonstrationen durch Pfefferspray Verletzte nur in den seltensten Fällen eine Versorgung durch PolizeisanitäterInnen erfahren. Ganz im Gegenteil werden DemosanitäterInnen oder HelferInnen von Rettungsdiensten oftmals an einer Behandlung gehindert. Insbesondere bei KontaktlinsenträgerInnen werden dadurch schwere bleibende Sehschäden in Kauf genommen.

So wurden z.B. am Schwarzen Donnerstag auf Weisung der obersten Polizeiführung keine den Einsatz begleitende Rettungskräfte angefordert, obwohl mit einem Einsatz von polizeilichen Gewaltmitteln gerechnet werden musste, und wie sich immer deutlicher herausstellt, die Polizei von oberster politischer Ebene angewiesen wurde, eine Eskalation bewusst herbeizuführen. Rettungskräften wie dem DRK, welche eigeninitiatv die Hunderte von Verletzten (v.a. durch Pfefferspray) versorgen wollten, wurde der Zugang über Stunden verwehrt. An diesem Tag wurde Pfefferspray nachweisbar gegen Hunderte völlig friedliche Protestierende eingesetzt, u.a. „um die Demonstranten zum Verlassen des Platzes zu bewegen“ – unzweifelhaft ein Verstoß gegen die Einsatzregeln. ([1] und [2])

Bereits im Mai 2011 haben wir uns deshalb mit einer Petition an den Petitionsausschuss des Bundestag gewandt, die eine starke Einschränkung dieser unsäglichen Praxis fordert. Insgesamt 5457 UnterstützerInnen schlossen sich unserer Petition an.

Im Weiteren fordern wir gemeinsam mit vielen anderen Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen eine individuelle Kennzeichnung von Polizeibeamtinnen und -beamten. Ohne Kennzeichnung ist es in den meisten Fällen aufgrund der Anonymität nicht möglich, StraftäterInnen in Uniform juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Ein Beispiel dafür wird in unserer Pressemitteilung „Niedersächsischer Koalitionsbeschluss zur individuellen Kennzeichnung von Polizei­beamtInnen muss zügig umgesetzt werden“ dargestellt. In diesem Fall geht es um acht Strafanzeigen gegen Polizeibeamte, die eingestellt wurden, weil die Tatverdächtigen laut Staatsanwaltschaft nicht ermittelt werden konnten.
Im Fall des Schwarzen Donnerstag wurden sogar exakt 156 Ermittlungsverfahren gegen PolizeibeamtInnen eingestellt, weil diese nicht identifizierbar waren. ([3])

Außerdem fordern wir von der Polizei unabhängige Beschwerdestellen für Betroffene von Polizeigewalt. Klare Kriterien für solche Kontrollinstanzen wurden gemeinsam erarbeitet von Amnesty International, der Humanistischen Union, der Internationalen Liga für Menschenrechte, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein.

Wenn man sich unvorsichtigerweise nach dem Schneiden einer Chilischote die Augen reibt, bereut man diese Nachlässigkeit unmittelbar: Ein heftiges Brennen ist die Folge. Im Vergleich zu Pfefferspray ist dies jedoch ausgesprochen harmlos, denn ein Polizist versprüht auf Knopfdruck 5,3 Millionen auf der Scoville-Skala. Zum Vergleich: Peperoni schaffen dreistellige Werte, Jalapeños vierstellige. Die wohl schärfste Pflanze der Welt, die Habanero-Schote, bringt es auf eine halbe Million Einheiten Scoville-Grade.
Durch Forschungen ist belegt, dass der Wirkstoff Capsaicin in Verbindung mit Drogen oder Psychopharmaka hochriskant ist und oft tödlich endet. Hintergründe im folgenden Artikel.

"Auf Knopfdruck Schmerz
... Robert Thompson ist ein amerikanischer Professor für Popkultur und sagt, dass „wir in einem Zeitalter des Pfeffersprays leben“. Wo Diktatoren Demonstranten niederschießen lassen, lassen demokratische Regierungen zur Sprühdose greifen. ...

Die Amerikanische Bürgerrechtsunion ACLU (American Civil Liberties Union) hat etliche Todesfälle nach Pfefferspray-Einsätzen recherchiert (PDF-Datei), allein in Kalifornien starben zwischen 1993 und 1995 26 Menschen. 2003 veröffentlichte das amerikanische Justizministerium eine Studie, die 63 Todesfälle im Zusammenhang mit Pfefferspray dokumentiert. Zwar ließ sich die genaue Todesursache nicht immer mit Sicherheit bestimmen, fest steht aber: Pfefferspray kann töten.
Vor allem in Verbindung mit Drogen oder Psychopharmaka ist der Wirkstoff Capsaicin hochriskant. Der amerikanische Suchtmediziner John Mendelson wies durch Tierversuche nach, dass diese Kombination oft tödlich endet. Auch für psychisch Kranke ist Pfefferspray gefährlich, in Deutschland hat es in der Vergangenheit mehrere Todesfälle beim Einsatz gegen Menschen im Wahnzustand gegeben. ...

Für Soldaten verboten
Wenn ein Soldat Pfefferspray einsetzt, verstößt er gegen das Genfer Biowaffenabkommen. Ein deutscher Polizeivollzugsbeamter darf Pfefferspray als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt gegen Menschen einsetzen. ..."
FR, 05.12.2011

Am Montag, den 7. November 2011, fand im Innenausschusses eine Expertenanhörung zu den Themen Pfefferspray und Kennzeichnungspflicht statt. Im Umfeld dieser fragwürdigen Anhörung (1) machte Rüdiger Reedwisch von der Polizeigewerkschaft DPolG bezüglich des Castortransportes deutlich, dass die Polizei erneut zu einem harten Durchgreifen bereit sein wird (2). Der nächste massive Pfefferspray-Einsatz ist also angekündigt.

Wir sind aufgrund dieser polizeilichen Drohgebärde sehr besorgt und verurteilen diese scharf,

  • aus medizinischer Sicht:

"Wir können nicht jeden fragen, ob er irgendwelche Medikamente nimmt", so Reedwisch (2).
Diese Haltung kann nicht anders als ignorant bezeichnet werden, denn mit dieser Devise werden im Wendland oder anderswo weitere Todesfälle durch Pfefferspray bewusst in Kauf genommen.
Die Warnungen aus medizinischer Sicht sind eindeutig: In der Begründung unserer Petition verweisen wir auf den Umstand, dass rund 25% der Erwachsenen Asthmatiker oder Allergiker sind, für die ein erhebliches Gesundheitsrisiko besteht.
Somit riet Joachim Rahmann in der Expertenanhörung des Innenausschusses am Montag, 7. November 2011 (3) aus gutem Grund zu "extremer Zurückhaltung" beim Pfefferspray-Einsatz gegenüber Menschengruppen.
Beim letzten Castortransport registrierten die BI Lüchow-Dannenberg und Demosanitäter 384 durch Pfefferspray Verletzte (4). Schätzungen gehen von insgesamt über 1000 Verletzten aus.

  • weil sie das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit massiv bedroht:

Herr Reedwischs Äußerung, wer sich ordnungsgemäß verhalte, "der kriegt auch kein Pfefferspray ab" (3) zeugt von erschreckendem polizeistaatlichem Denken. Im Rahmen unserer Arbeit, also der Beobachtung zahlreicher Versammlungen, wurden wir Augenzeugen mannigfaltigen rechtwidrigen Polizeiverhaltens. Dabei konnten wir viele Be- und Verhinderungen des im Grundgesetz, Artikel 8 allen Bürgerinnen und Bürgern garantierten Rechts auf friedliche Versammlung durch Polizeikräfte dokumentieren. Wer diese polizeiliche Willkür nicht augenblicklich hinnimmt, muss jederzeit damit rechnen, von den Einsatzkräften - genauso rechtswidrig - mit Pfefferspray angegriffen zu werden. Diese polizeiliche Praxis sowie deren Rechtfertigung nach Gutdünken der Einsatzleitung bei gleichzeitiger Unkenntnis oder gar bewusster Missachtung des gesetzlichen Rahmens, wie sie im obigen Zitat an die Oberfläche tritt, stellen eine ernsthafte Gefährdung eines der vornehmsten demokratischen Grundrechte dar.

  • weil sie das Ende der Politik und eine bedenkliche Nähe zu militärischen Niederschlagungsstrategien markiert:

Zum Einsatz von Pfefferspray sagte Bernhard Witthaut, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, während der Anhörung in Innenausschuss, damit könne der Einsatz von Schusswaffen vermieden werden. Auch Jürgen Schubert, Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder, verwies darauf, dass man "zwischen Schusswaffe und Schlagstock" kein anders Mittel als Pfefferspray habe. Reedwisch argumentierte ebenfalls, Pfefferspray werde von Polizisten verwendet, um den Einsatz schärferer Mittel zu verhindern. (Alle aus (3).)

Die Polizei kündigt nun einen weiteren flächendeckenden Einsatz von Pfefferspray und anderen Reizgasen an. Das tut sie im Bewusstsein, den Transport nicht mehr mit anderen Mitteln gegen den Protest und Widerstand von zehntausenden Bürgerinnen und Bürgern durchsetzen zu können. Die Politik hat hier vollständig versagt. Anstatt zum dringend notwendigen demokratischen Dialog zurückzukehren, wird eine bürgerkriegsähnliche Armada von 20 000 Polizeibeamtinnen und -beamten in Marsch gesetzt; Grundrechte wie Versammlungsfreiheit und körperliche Unversehrtheit werden vorsätzlich mit Füßen getreten.
Zieht man den logischen Umkehrschluss aus der Äußerung "zwischen Schusswaffe und Schlagstock" habe man kein anderes Mittel als Pfefferspray, so drängt sich die Frage geradezu auf, zu welchem Mittel die Polizei wohl greifen würde, stünde ihr Pfefferspray nicht zur Verfügung. Diese Betrachtung ist entlarvend und erschreckend zugleich, zeigt sich doch gerade hier die umfassende Bankrotterklärung der Politik sehr deutlich. Aber gerade hiergegen entzündet sich immer stärkerer Protest und Widerstand, um die Mindestanforderungen einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu verteidigen. Wir sind heute an einem Punkt angelangt, wo die Polizei offensichtlich nicht mehr in der Lage ist, eine verfehlte Politik allein mit dem Schlagstock durchzusetzen. Wäre dies schon sehr bedenklich, so sind aber polizeiliche Mittel, die Tote bewusst in Kauf nehmen, absolut inakzeptabel.

Es ist nicht Aufgabe der Polizei, undemokratische Fehlentwicklungen von historischem Ausmaß mit quasi-militärischen Mitteln gegen eine große Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen. Tut sie es dennoch, so stellt sie sich außerhalb ihrer demokratischen Legitimation - ein Szenario, das alle alarmieren muss.

(1) Siehe unsere Stellungnahme an den Petitionsausschuss, 22.11.2011
(2) "Sprühen, bis der Arzt kommt", Neues Deutschland, 11.2011
(3) Bericht über die Expertenanhörung des Innenausschusses am Montag, 7. November 2011, Textarchiv des Bundestages
(4) Reizgas und Schlagstock - die BI Lüchow-Dannenberg und die Demosanitäter ziehen Bilanz

Dortmund 03.09.2011
Hier wird "der Einsatz von Schusswaffen vermieden" (2):

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Dieses Foto, das die reale Polizeipraxis veranschaulicht, wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von PM Cheung.

Er schrieb dazu:
"In Dortmund haben am 03.09.2011 über 10.000 Menschen gegen einen Aufmarsch von rund 700 Neonazis demonstriert. Viele Demonstranten versuchten sich den Rechtsextremisten in den Weg zu stellen. Ein Großaufgebot der Polizei verhinderte dies, indem sie die Aufmarschstrecke der Neonazis weitgehend abriegelte. … Die Polizei setzte dabei Wasserwerfer, Pfefferspray und Tränengasgranaten gegen die Nazigegner ein."

(1) Jürgen Schubert, Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder
(2) Bernhard Witthaut, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei
Beide am 07.11.2011 vor dem Innenausschuss

Am Montag, den 7. November 2011, fand im Innenausschusses eine fragwürdige Experten­anhörung zu den Themen Pfefferspray und Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamtinnen und -beamte statt.
Diese Anhörung hat eine große Bedeutung für unsere Petition "Restriktiverer Einsatz von Pfefferspray", denn der Petitionsausschuss wartet für ihre Bearbeitung auf eine Stellungnahme des Innenausschusses zu einer inhaltlich ähnlichen Anfrage der Fraktion Die Linke zu Pfefferspray.

Um es kurz zu machen: Fünf von sechs geladenen Experten waren Polizisten - entsprechend vorhersehbar tendenziös fiel das Ergebnis der Anhörung dann auch aus.

Sehr geehrte Damen und Herren im Petitionsausschuss,

mit Schreiben vom 25.05.2011 wurde mir als Petent der Petition 17847 "Restriktiverer Einsatz von Pfefferspray" mitgeteilt, dass der Petitionsausschuss zur Bearbeitung vorgenannter Petition auf eine Stellungnahme des Innenausschusses zu einer inhaltlich ähnlichen Anfrage der Fraktion Die Linke warte. Am Montag, den 7. November 2011, fand nun diese Expertenanhörung  im Innenausschuss zu diesem Thema sowie zur Kennzeichnungs­­pflicht für Polizeibeamtinnen und -beamte statt.

Mit Verwunderung nehmen wir die Zusammensetzung dieser Runde zur Kenntnis. Sie könnte kaum unausgewogener sein. Von sechs Sachverständigen sind bis auf Herrn Rahmann von amnesty international alle (!) anderen Vertreter der Polizei.

Damit bleiben die wesentlichen Argumente sowohl der Anfrage der Linken als auch unserer Petition völlig unberücksichtigt: Die medizinische Seite wird vollkommen ignoriert und die Verhältnismäßigkeit der Mittel lässt sich ausschließlich mit Polizisten sicher nicht diskutieren.

Unsere Petition richtet sich aber nicht an die Polizei, sondern an das politische demokratische Entscheidungsgremium. 

Für eine einigermaßen objektive Entscheidungsgrundlage wäre es geboten, weitere unabhängige Meinungen, z.B. aus ärztlicher Sicht (1) und von Bürgerrechtsinitiativen (2) einzuholen und zur Kenntnis zu nehmen. Auf diese Weise ließe sich z.B. die sehr unreflektierte Aussage von Herrn Jürgen Schubert, wer sich ordnungsgemäß verhalte, "der kriegt auch kein Pfefferspray ab", schnell als unhaltbar entlarven.

(1)    Z.B.: Reizgas und Schlagstock - die BI Lüchow-Dannenberg und die Demosanitäter ziehen Bilanz: 384 Verletzte durch Pfefferspray

(2)    Z.B.:

 

"Die Grünen fordern die Berliner Polizei auf, künftig auf Pfefferspray-Einsätze auf Demonstrationen weitestgehend zu verzichten. ...
Unabhängige Sanitäter sprachen von gut 200 Verletzten durch das Pfefferspray. Grünen-Rechtsexperte Dirk Behrendt, am Abend des 1. Mai vor Ort, sprach von einem "unverhältnismäßig und wahllos wirkenden" Gebrauch des Reizgases. Behrendt kritisierte auch die unangekündigten Soforteinsätze. "Das Gesetz sieht eine Androhung vor dem Gebrauch vor, in der Praxis wird das offenbar nicht umgesetzt." ...
Der Grüne unterstützt eine Bundestagspetition, die sich für ein Verbot von Pfeffersprayeinsätzen auf Demonstrationen, mit Ausnahme von Notwehr, ausspricht."
TAZ, 21.06.2011

"Bundestagspetition für restriktiveren Einsatz von Pfefferspray, und ein besorgniserregender Ministerbrief

Eine Petition an den Bundestag fordert einen restriktiveren Einsatz von Pfefferspray bei Einsätzen in Zusammenhang mit größeren Versammlungen, z.B. bei Demonstrationen. Initiatorin der Petition ist die Göttinger Initiative 'BürgerInnen beobachten die Polizei'. Es ist zu begrüßen, dass damit eine kritische Diskussion über die Verhältnismäßigkeit von Pfefferspray initiiert wird. ...

Vor diesem Hintergrund ist die eingebrachte Bundestagspetition ein wichtiger Impuls für eine notwendige Debatte, mit der sich die Parteien und die Polizei in Bund und Ländern befassen sollten. Pfefferspray darf nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden, und muss entsprechend der UN-Leitlinien streng kontrolliert und überwacht sowie die Gefährlichkeit des Einsatzmittels weiter untersucht werden."

Polizisten zeigen Polizisten an
Am 1. Mai wurden offenbar an mehreren Orten Polizisten durch Polizisten verletzt. LKA-Mitarbeiter beklagt Faustschlag. Zivilbeamte zeigen Pfeffersprayeinsatz an. Demosanitäter spricht von wahllosem Reizgaseinsatz.
TAZ, 04.05.2011

Tödliche Polizeigewalt – Aufklärung ausgeschlossen?
Am frühen Morgen des 24.02.2010 wird die Polizei in Schöneberg gerufen. Slieman fühlt sich durch die laute Musik seiner Nachbarn gestört und ist wütend. Seine Familie will verhindern das es zum Streit mit den Nachbarn kommt. Die anrückende Polizei stempelt Slieman sofort als Störer ab und will ihn des Hauses verweisen. Slieman möchte aber wieder zurück in die Wohnung woraufhin die Polizei ihn festnehmen will. 3 Polizisten kommen als Verstärkung dazu und greifen ohne Vorwahnung zum Pfefferspray und sprühen damit den kompletten Hausflur ein. Slieman wird auf dem Boden von der Polizei fixiert, er ringt nach Luft und verliert immer wieder kurz das Bewusstsein. Familienangehörige berichten später, dass Slieman auch als er schon am Boden lag, von den Cops geschlagen wurde. Ein Sanitäter, welcher später eintraf, beschäftigte sich erst mal mit dem Ausspülen der Augen eines Polizisten, anstatt sich um den mittlerweile bewusstlosen Slieman zu kümmern. Spätere Wiederbelebungsversuche führen dazu das Sliemans Herz wieder schwach schlägt. Aber leider ist es zu diesem Zeitpunkt zu spät. Slieman stirbt mit 32 Jahren. 2 Monate später, am 30.04.2010, passierte das was in den meisten Fällen tödlicher Polizeigewalt geschieht: Die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft werden eingestellt. Ein Aufklärungswillen der Staatsanwaltschaft ist wie bei vielen anderen Fällen nicht erkennbar und so wurden zahlreiche Hinweise unberücksichtigt gelassen. Erstaunlich dabei ist es, wie selbst eindeutige Zeugenaussagen nicht nachgegangen wurde. So hatte eine Polizeibeamtin ihre Kollegen darauf aufmerksam gemacht, das bei der angewendeten Fixierung die Gefahr besteht, dass Slieman erstickt. Auch wurden Zeugen gar nicht erst befragt.
no justice - no peace, Berliner Blog gegen Polizeigewalt, 15.06.2011

Offenbar haben wir einen wunden Punkt getroffen. Die Berichterstattung der TAZ löste im Diskussionsforum copzone.de unmittelbar eine aufgeregte Diskussion aus. Dort tauschen sich, wie der Name vermuten lässt, Polizistinnen und Polizisten aus.
Die dort zu Tage tretenden Vereinfachungen und Gewaltfantasien sind ein erneuter Beleg für eine in Polizeikreisen leider keineswegs vereinzelt auftretende Haltung.

Wir haben in den Bundestag eine Petition gegen den Einsatz von Pfefferspray eingebracht.

Diese Petition kann vom 25.05.2011 bis 07.07.2011 online unterschrieben / mitgezeichnet werden. Dazu müsst ihr euch auf der ePetitionen-Seite des Bundestages mit eurer E-Mail-Adresse registrieren.

Unsere Forderung ist, den Einsatz von Pfefferspray seitens der Bundespolizei gegen Versammlungen, Menschenmengen und Einzelpersonen mit  Ausnahme der Notwehr zu verbieten. Außerdem soll mittels eines Bundesgesetzes sowie im Rahmen der Innenministerkonferenz die selbe  Einschränkung für die Landerpolizeien erwirkt werden.

Denn für Asthmatiker (5 % der Erwachsenen) und Allergiker (ca. 20%), sowie für Menschen, die Beruhigungsmittel, Drogen sowie bestimmte Medikamente eingenommen haben, besteht ein erhebliches gesundheitliches Risiko. So ereigneten sich in Deutschland im Jahr 2009 mindestens drei Todesfälle nach einem Polizeieinsatz mit Pfefferspray, im Jahr 2010 ein weiterer und in diesem Jahr bereits einer. Von Verhältnismäßigkeit der polizeilichen Mittel kann keine Rede mehr sein, wenn z.B. eine Sitzblockade mittels Einsatz eines potentiell tödlichen Reizmittels aufgelöst wird. Pfefferspray soll deshalb künftig nur noch ausschließlich zur Abwendung unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben der PolizistInnen erlaubt sein und dessen Verwendung dem Schusswaffengebrauch gleichgestellt werden.

Wir wünschen uns für diese Petition viele, viele Unterschriften und große öffentliche Aufmerksamkeit für die Gefährlichkeit von Pfefferspray.

Also:
Weiterverbreiten und mitzeichnen!
Leitet diese Mail weiter, verlinkt unsere Schwerpunktseite zum Thema
(s.u.), twittert, schreibt bei Facebook, …

Zum Weiterlesen:

Unsere Schwerpunktseite zum Thema

Unsere Pressemitteilung zur Petition

Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags: "Pfefferspray - Wirkung und gesundheitliche Gefahren" vom 10. November 2010

Untersuchung der MdB Karin Binder: "Der Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten durch Polizeikräfte" vom 16. März 2011

Verurteilung eines Polizisten wegen "Körperverletzung im Amt"
TAZ vom 31.03.2011

"Chili statt ausgestreckter Hand
Erst seit der Jahrtausendwende als polizeiliches Zwangsmittel im Einsatz, spritzt die Polizei immer häufiger mit reizenden Substanzen. (…) 'Und in den letzten Jahren' gebe es 'eine Dynamik hin zum Pfefferspray', hat Linken-Pfefferspray-Experte Schering beobachtet. 'Statt Deeskalation, was ja mühsam und aufwändig ist, wird Pfefferspray gespritzt - wie Insektenspray'".
TAZ vom 04.05.2011

"'Verbieten sollte man das!'
Immer wieder gerät die Polizei wegen des übertriebenen Einsatzes von Pfefferspray in die Kritik. Eine E-Petition beim Bundestag will ihn dem Schusswaffengebrauch gleichsetzen lassen."
TAZ vom 12.06.2011

"Bundestags-Petition gegen Pfefferspray"
Monsters of Göttingen, 14.06.2011

Noch mehr Weiterlesen und Interviews hören auf der Seite Pressespiegel.

Brauner Aufmarsch - rote Augen
Tausende NPD-Gegner versuchten am Samstag, auf die Demoroute der NPD im Hohentor vorzustoßen. Doch an den Absperrungen kamen sie nicht vorbei. "Der Aufmarsch der Nazis war nur durch brutalen Polizeieinsatz möglich", sagt Norbert Schepers vom "Keinen-Meter"-Bündnis. Über 300 DemonstrantInnen seien verletzt worden - die meisten mit Pfefferspray, einige hätten Platzwunden und Prellungen erlitten, zwei Menschen ihr Bewusstsein verloren. "Die Polizei hat Pfefferspray nicht nur in Bedrängnis, sondern auch präventiv eingesetzt," so Schepers. Schon kurz nach 10 Uhr sei auf dem Ort der Abschlusskundgebung, dem Leibnizplatz, die erste Reihe der Demo ohne Anlass von der Polizei mit Pfefferspray angegriffen worden, die am Boden liegenden DemonstrantInnen seien mit Knüppeln verprügelt worden.
TAZ, 03.05.2011

Pressemitteilung des Bündnisses “Keinen Meter!”
6000 antifaschistische DemonstrantInnen gegen den Naziaufmarsch der NPD aktiv ­- Polizei setzt NPD-Aufmarsch unter massiver Anwendung von Pfefferspray durch.
(...) Gegen Mittag wurde ein Antifaschist nach dem Einsatz von Pfefferspray bewusstlos, er kollabierte, und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Die Polizei verhinderte zunächst die Durchfahrt des Krankenwagens. Der sanitäre Einsatz fand morgens in der Pappelstraße, also weit entfernt von der NPD Route, statt. SanitäterInnen berichten von insgesamt über 300 Personen, die wegen Pfeffersprayverletzungen, Prellungen und Schockzuständen durch die Polizeigewalt behandelt werden mussten.
Keinen Meter!, 30.04.2011

Innenminister Schünemann antwortete am 18. Februar 2011 auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke im Niedersächsischen Landtag. Pfefferspray gehöre zu den Mitteln des "unmittelbaren Zwanges", sei also "ein Hilfsmittel körperlicher Gewalt". Schünemann behauptet, Im Fall der Demo am 22. Januar 2011 in Göttingen, hätte "gezielt gegen einzelne Störer an der Spitze des Aufzugs" mit Reizstoffsprühgerät bzw. dem Einsatzstock vorgegangen werden müssen, um "die Angriffe gegen die Einsatzkräfte" zu beenden. JedeR, die oder der auf der Demo war, weiß, daß das nicht der Wahrheit entspricht. Auf einem Video sowie auf mehreren Fotos ist z.B. zu erkennen, wie in einer friedlichen Situation (Mitte Goetheallee) anlass- und wahllos in die Menge gesprüht wird. Wenig später prügelte sich an der Leinekanalbrücke ein Trupp PolizistInnen quer durch die Demospitze, auch hierbei kam es zu massivem Pfeffersprayeinsatz, was ebenfalls durch Viedeoaufnahmen dokumentiert ist. Bereits in unserer Presseitteilung zu dieser Demonstration kamen wir zu der Einschätzung, dass diese Eskalationen seitens der Polizei in der Gesamtschau als bereits im Vorfeld geplant erscheinen. Die wiederholten Angriffe mit Pfefferspray spielten dabei eine wichtige Rolle.

Schünemann behauptet in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage, dass von Pfefferspraygehe gehe laut keine Gefährdung für den Menschen ausgehe, sofern er in gutem Gesundheitszustand sei und nicht unter Drogen stehe. "In jedem Falle … wird die Anwendung … von Reizstoffen angekündigt und ausreichend Gelegenheit gegeben, sich  …. den Auswirkungen von Reizstoffen zu entziehen." Ausnahme: von der Demo gehen Gewalttaten aus oder stehen unmittelbar bevor. Das entscheiden dann die Polizeikräfte, so wie sie auch bestimmen, was Vermummung ist und was nicht.

Innenminister Schünemann ignoriert das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags: "Pfefferspray - Wirkung und gesundheitliche Gefahren" ebenso wie die Untersuchung der MdB Karin Binder: "Der Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten durch Polizeikräfte". Anlaß für die beiden Arbeiten war der massive Pfefferspray-Einsatz in Stuttgart ("Stuttgart 21") sowie der bei den Castor-Transporten im Wendland. Ihre Schlußfolgerungen stehen konträr zu den verharmlosenden Ausführungen Schünemanns. Das Gutachten Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags verweist auf diverse Gefährdungen und meint zusätzlich: "Nach Angaben von Spiegel-Online ereigneten sich zudem im Jahre 2009 in Deutschland mindestens drei Todesfälle nach einem Polizeieinsatz mit Pfefferspray. Alle Todesopfer standen während der Exposition mit Pfefferspray unter dem Einfluss von Drogen oder Psychopharmaka.

Eine erhöhte Gefahr indirekter gesundheitlicher Folgen besteht schließlich für Asthmatiker, Allergiker und blutdrucklabile Personen bzw. bei arterieller Hypertonie."

Aufgrund der potentiell tödlichen Risiken von Pfefferspray stellte die Fraktion der Linken im Bundestag einen Antrag auf eine massive Einschränkung des Einsatzes dieser Polizeiwaffe. Gefordert wird ein generelles Verbot des Einsatzes gegen Versammlungen und Menschenmengen. Die Einsatzvorschriften für Pfefferspray solle den Vorschriften für Schusswaffengebrauch angeglichen werden und jede Anwendung dokumentiert und auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden. Zukünftig soll Pfefferspray lediglich bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben von PolizistInnen erlaubt sein.

Der Bundestag hat diesen Antrag in erster Lesung beraten, teilt die Fraktion auf ihrer Internetseite mit: "CDU/CSU, FDP und SPD haben dabei klargestellt, dass sie keinerlei Bedarf für eine Änderung der gesetzlichen Regelung sehen. (...)" Die Fraktion der Linken will sich nun für eine Expertenanhörung im Innenausschuss des Bundestags einsetzen, schreibt sie weiter.

Aus dem Wortlaut der Begründung des Antrags (Vorab-Fassung):

"Aus den aufgezeigten Gesundheitsgefährdungen ergibt sich ein unvereinbarer Widerspruch mit der Bindung polizeilicher Einsatzmaßnahmen an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht auch deswegen, weil es in der jüngsten Vergangenheit — teilweise auch unter dem Vorwand des Eigenschutzes — wiederholt zu sehr extensiven Anwendungen von Pfefferspray gegen größere Menschenmengen kam: So anlässlich einer Demonstration gegen das Bauvorhaben „Stuttgart 21" am 30. September 2010 sowie bei den Protesten gegen den Castor-Transport Anfang November 2010 im Wendland. Insgesamt gab es Hunderte von Verletzten, in der Regel trugen die Betroffenen Verletzungen an den Augen davon. Auch Pfefferspray-Einsätze gegen größere Menschenmengen am Rande von Fußballspielen werden zahlreich dokumentiert. Bei solchen Einsätzen geht es in der Regel nicht um die Abwehr akuter Lebensbedrohungen, sondern um die Disziplinierung von Menschenmassen. Selbst wenn man der Meinung wäre, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste in Stuttgart und im Wendland hätten Rechtsverletzungen begangen, so kann die Beendigung einer Versammlung, einer Sitzblockade oder auch einer „Schottern"-Aktion kein Anlass sein, der den extensiven Einsatz von Pfefferspray und damit die Inkaufnahme eines Todesrisikos für die betroffenen Demonstrantinnen und Demonstranten rechtfertigt. Die ungehinderte Durchführung von Bauvorhaben oder die rasche Durchführung eutes Atomtransportes wiegen längst nicht so schwer wie das Leben von Menschen, so dass die Polizei hier unbedingt zu weniger gefährlichen Mitteln greifen muss. Auch beim Einsatz gegen andere größere Ansammlungen von Menschen, wie etwa Fußballfans oder Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher, kann eine Gefährdung Unbeteiligter praktisch nie ausgeschlossen werden."

"Ein kleiner Prozentsatz
Immer häufiger gehen Polizisten gegen ­Demonstranten mit Pfefferspray vor. Das ist gefährlicher, als die Regierung zugeben will
(...) Die Sorge, das Mittel könnte weit gefährlicher sein als behauptet, treibt nicht nur Linke um. Ende November wandte sich der FDP-Abgeordnete Erwin Lotter an das Innenministerium. „Als Arzt und ordentliches Mitglied des Gesundheitsausschusses“, schrieb der Liberale, könne er „die durchaus begründeten Implikationen“ der Studie aus dem Binder-Büro „nicht ignorieren“. Zwar finde sich darin „oppositionelle Begleitmusik“. Trotzdem hält Lotter eine Prüfung der Risiken für „dringend geboten“ und fordert, „weniger komplikationsbehaftete Alternativen zu einem Einsatz von Pfefferspray“ in Erwägung zu ziehen.
Doch die Bundesregierung denkt bislang nicht daran. Es liege nun einmal „in der Natur der Sache“, antwortete das Innenministerium der Linksfraktion, dass mit „der Anwendung von Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt“ auch „gesundheitliche Beeinträchtigungen“ einhergingen. „Trotz Einzelrisiken“ müsse Pfefferspray daher „in der Palette polizeilicher Mittel beibehalten werden“ – auch wenn „bei einem kleinen Prozentsatz der Fälle eine gravierendere Gesundheitsbeeinträchtigung nicht ausgeschlossen werden kann“.
Aber wie klein ist der Prozentsatz wirklich? Kritischere Risikoeinschätzungen gehen davon aus, dass eine erhöhte Gefahr „für Asthmatiker, Allergiker und blutdrucklabile Personen bzw. bei arterieller Hypertonie“ besteht. So teilt es jedenfalls der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags mit. Allein von Asthma sind etwa fünf Prozent der Erwachsenen betroffen, Experten rechnen mit 20 Prozent Allergikern in der Bevölkerung. (...)"
Der Freitag, 04.04.2011

"Pfefferspray im Landtag
Der Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei in Göttingen beschäftigt demnächst den Niedersächsischen Landtag.
Patrick Humke (Die Linke) hat eine kleine Anfrage zu dem Polizeieinsatz bei der Demonstration am 22. Januar gestellt. Rund 30 Demonstranten, so schreibt der Abgeordnete, seien „nicht nur durch Knüppeleinsätze und Tritte von Polizisten verletzt, sondern in erster Linie durch den Einsatz von sogenanntem Pfefferspray“ verletzt worden. Diese Waffe, heißt es in der Anfrage, sei nach Ansicht der Mehrheit der Experten stark gesundheitsgefährdend und führe „in manchen Fällen zur Erblindung oder zum Tode von Opfern polizeilicher Gewalt“."
Göttinger Tageblatt, 07.02.2011

"Pfeffersprayeinsatz mit Nachspiel
Am 22. Januar wurde in Göttingen demonstriert. Die Polizei setzte dort auch in größerem Stil und scheinbar wenig zielgerichtet Pfefferspray ein. Es gab mehrere Verletzte. Eine „kleine Anfrage“, gestellt von Patrick Humke (LINKE), war das parlamentarische Nachspiel im Niedersächsischen Landtag. Der Innenminister Uwe Schünemann antwortet nun mit Schuldzuweisung an die verletzten Demonstranten und Herunterspielen der Gefahren des Einsatzmittels „Pfefferspray“."
Monsters of Göttingen, 21.02.2011

Kleine Anfrage der Abgeordneten im Landtag Niedersachsen Pia-Beate Zimmermann (Linke):
"Einsatz von Pfefferspray durch Sicherheitskräfte in Niedersachsen" mit Antwort des niedersächsischen Innenministers Schünemann (PDF).

Kleine Anfrage des Abgeordneten im Landtag Niedersachsen Patrick-Marc Humke (Linke):
"Einsatz von Pfefferspray bei Demonstrationen in Göttingen" mit Antwort des niedersächsischen Innenministers Schünemann (PDF).

"Grüne & Linke kritisieren Pfefferspray-Einsatz
Der Göttinger Kreisverband der Grünen hat den gewalttätigen Polizeieinsatz gegen eine Demonstration am 22. Januar scharf kritisiert. Auch Innenminister Uwe Schünemann (CDU) bekommt sein Fett weg: er nehme körperliche Verletzungen von Demonstrierenden in Kauf, beklagen die Grünen. Auch die Linkspartei kritisiert den Minister."
Monsters of Göttingen, 28.02.2011

Aus der Pressemitteilung der Grünen im Göttinger Stadtrat:
"Der Innenminister geht wohl davon aus, dass in Niedersachsen nur top-fitte und gesunde Menschen demonstrieren gehen und seine Polizist_Innen deswegen ruhig willkürlich mit Pfefferspray um sich sprühen könnten. Wenn doch mal ein_E Asthmatiker_In dazwischen sein sollte, dann scheint Herrn Schünemann das Risiko für diese_N, langfristige Atemwegsbeschwerden zu bekommen auch recht zu sein. Derart ignorant, auch schon gegenüber kurzfristigen Verletzungen zu sein, ist für einen Minister, der als Repräsentant staatlicher Gewalt das Grundrecht seiner Bürger_Innen nicht nur auf Demonstrationsfreiheit, sondern vor allem auch auf körperliche Unversehrtheit schützen soll, einfach unfassbar!"

Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unseren Beitrag "Pfefferspray: Tränende Augen, Atemnot, Tod".

Pfefferspray ist bei der Polizei in Mode gekommen als Wunderwaffe gegen Alles und Jeden. Als nicht-tödliches Mittel bei Einsätzen gegen Gewalttäter gedacht, wird es inzwischen als Repressionsmittel bei politischen Demonstrationen und Aktionen anlass- und wahllos eingesetzt. Die Folge sind immer wieder Dutzende von Verletzten. Öffentliche Empörung erregte der massenhafte Einsatz von Pfefferspray gegen SchülerInnen in Stuttgart. Weniger Echo fand der noch wesentlich härtere Einsatz gegen AktivistInnen der Kampagne CastorSchottern, obwohl hier über 1000 Menschen hauptsächlich durch Pfefferspray verletzt wurden. Dazu die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke in einer Pressemitteilung vom 01.12.2010:

"Castor-Einsatz: Tausende Pfefferspray-Kartuschen gegen Demonstranten
Die Bundespolizei hat beim Castor-Einsatz fast 2200 Kartuschen mit synthetischem Pfefferspray leergesprüht. Schon die Dimension dieses Reizgaseinsatzes zeigt, welcher Polizeigewalt die Demonstranten ausgesetzt waren. Mit der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist das schlechterdings unvereinbar. (...) Die Bundesregierung teilt mit, nach dem Einsatz sei seitens der Bundespolizei „ein Ersatzbedarf von 2190“ Sprühgeräten angezeigt worden. Pfefferspray ist eine Waffe, die schon mehrfach Todesopfer gefordert hat. Sie gegen Demonstranten oder Sitzblockierer zu verwenden, halte ich für absolut illegitim."

Auch hier in Göttingen wird das Kampfgas nun gegen Demonstrationen eingesetzt. Wir und andere konnten mehrere provokative und offenkundig illegale Pfefferspray-Angriffe der Polizei dokumentieren. Derzeit sind wir an der Auswertung des Materials, eine Stellungnahme und weitere Schritte gegen diese neue Form der Polizeigewalt werden folgen.

Um zu verdeutlichen, dass Pfefferspray alles andere als eine wirksame, aber harmlose Biowaffe ist, verweisen wir an dieser Stelle auf mehrere Stellungnahmen der Bundestagsabgeordneten Karin Binder von der Linksfraktion, in denen sie ein Verbot fordert. Untermauert wird diese Forderung durch ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten: