Nur wenige Kilometer von Göttingen entfernt, hinter der Thüringer Landesgrenze, scheint bei Polizeikräften, Ordnungsbehörden und Innenministerium das Wissen um Grundrechte auf einem Minimum zu verharren.

Bereits am 3.9.2011 begleiteten wir als BeobachterInnen eine von einem breiten Bündnis getragene Demonstration in Leinefelde, gegen den vom bekennenden Nazi Thorsten Heise in Leinefelde veranstalteten „Heimattag”. Bei unserer Ankunft am Bahnhof Leinefelde waren von Seiten der Polizei bereits zwei klare Verstöße gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit begangen worden:

Eine zur Demo angereiste Gruppe Thüringer Jusos wurde auf ihrem Weg von ihrem Hotel zur Auftaktkundgebung am Bahnhofsvorplatz willkürlich gestoppt und kontrolliert. (Vgl. hierzu das Urteil „Rechtswidrigkeit einer Identitätsfeststellung auf dem Weg zu einer Versammlung”.)

Der Platz der Auftaktkundgebung wurde von einem Kamerateam der Bundespolizei von einem Hubwagen aus etwa 20 Meter Höhe abgefilmt. Eine vor Ort anwesende Anwältin konnte diesen Rechtsverstoß unterbinden. (Vgl. diverse Urteile zur Videoüberwachung von Versammlungen: Sowohl die Übertragung – z.B. in die Einsatzleitstelle – als auch das Speichern von Bild- und Videoaufnahmen ist grundsätzlich nicht zulässig. Nur wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von einer Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen, darf von der Polizei gefilmt werden.)

Daraufhin wurde die nahezu lückenlose Videoüberwachung von Kamerawagen übernommen, die die Demonstration begleiteten. Schon zu Beginn der Demo und wiederholt im weiteren Verlauf wiesen die Anwältin und wir den vor Ort leitenden Polizeibeamten auf die Unrechtmäßigkeit hin. Dieser nahm mehrfach per Funk Kontakt mit der Einsatzleitung in Heiligenstadt auf und erklärte - ebenso wiederholt - es werde „lediglich übertragen, nicht gespeichert”. Die Vielzahl einschlägiger Urteile zum Thema wird in Thüringen offenkundig bewusst ignoriert.

Im Anschluss an die Abschluss­kundgebung meldete der Göttinger MdL Humke eine Spontan­demonstration an, die die selbe Route in umgekehrter Richtung zurück zum Bahnhof nehmen sollte. Dies wurde vom Landratsamt Eichsfeld in Heiligenstadt verboten - in verblüffender Ignoranz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Denn eine friedliche Versammlung kann nicht verboten werden; dies ist ein in Grundgesetz Art. 8 garantiertes Grundrecht. Lediglich bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung kann die Polizei vor Ort Auflagen erlassen, und erst bei unmittelbaren Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung kann eine Versammlung verboten werden. Dieses Verbot muss dann deutlich wahrnehmbar verkündet werden. All diese Regelungen gelten natürlich auch in Thüringen.
Humke reagierte umgehend auf das unzulässige Demonstrationsverbot und meldete daraufhin eine Spontandemonstration gegen diesen Grundrechtsbruch an – das Landratsamt Eichsfeld verbot aber auch diese, was ebenso unzulässig ist.
Erschreckend, dass das Thüringer Innenministerium in einer Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage diese unzulässigen Demonstrationsverbote weiterhin verteidigt.

Nach diesem Ketten-Rechtsbruch machte sich ein Großteil der Anwesenden von der Abschluss­kundgebung gemeinsam auf den Weg zum Bahnhof, was Angesichts der Anwesenheit von Nazis in der Stadt aus Sicherheitsgründen geboten war. Diese Gruppe wurde von Polizeikräften zunächst locker, zunehmend eng begleitet. Humke – und nur ihm – wurde von ihn begleitenden Polizisten vorgeworfen, Leiter einer verbotenen Demonstration zu sein. Ein absurder Vorwurf, den er postwendend zurückwies. Es wurden von der Polizei keinerlei öffentlich wahrnehmbare Durchsagen über etwaige Auflagen oder gar ein Verbot gemacht. Diese Vorwürfe richteten sich lediglich wiederholt an Humke persönlich.

Die Gruppe wurde dann an einer Kreuzung, auf halbem Weg zum Bahnhof, zuerst unvermittelt gestoppt, anschließend zunehmend gekesselt. Erst als der Kessel undurchlässig war, kam die erste Lautsprecherdurchsage der Polizei, mit der den Eingekesselten nachträglich (!) vorgeworfen wurde, sie seien TeilnehmerInnen einer verbotenen Versammlung und nach Feststellung ihrer Personalien hätten sie sich unmittelbar zum Bahnhof zu begeben. Offensichtlicher kann man das Versammlungsrecht kaum brechen.

Zwei unserer BeobachterInnen wurden höflich in den Kessel gebeten, der zu diesem Zeitpunkt noch keiner war, sich aber bereits zuzog. Ein außerhalb stehender dritter Beobachter wurde, als der Kessel bereits stand, unter Gewaltandrohung in den Kessel gezwungen. Vehementes Hinweisen auf geltendes Recht und das Androhen einer Klage gegen die unrechmäßige Maßnahme sowie Strafanzeige gegen die ausführenden Polizisten, wurde von diesen frech übergangen: „Mein Kollege ist einen Kopf größer als Sie, deshalb gehen Sie jetzt da rein!” hieß es aggressiv. Der Versuch, diesen massiven Rechtsbruch auf Video als Beweismittel zu sichern, wurde wiederum unter Gewaltandrohung unterbunden. Einer weiteren Beobachterin wurde das Filmen vieler Rechtsbrüche als Beweismaterial für die absehbar kommenden Klagen unter Beschlagnahmeandrohung untersagt, was den nächsten Rechtsbruch darstellt.

Eine derartige Häufung von Rechtsbrüchen kennen wir sonst nur von Castortransporten ins Wendland. Bei diesen Anlässen heißt es: „Wenn der Castor kommt, werden Grundrechte und Demokratie ausgesetzt.” Genau das Selbe erlebten wir am 3.9.2011 in Leinefelde. Das zuständige Rechts- und Ordnungsamt des Landkreis Eichsfeld, die Thüringer Polizei und das Innenministerium haben offensichtlich einen großen Weiterbildunsgbedarf in Sachen Grundrechte, Versammlungs- und Polizeirecht.

Diese Nachhilfe bekommen sie nun auch, denn ein breites Bündnis Betroffener hat Ende Januar 2012 gegen die Vielzahl an Rechtsverstößen eine ebenso große Vielzahl an Klagen eingereicht. Außerdem wurde Strafanzeige gestellt gegen die Polizei-Rambos, die kaltschnäuzig die Arbeit unseres Beobachters unterbanden, wegen Freiheitsberaubung und Nötigung. Auch gegen das Unterbinden unserer Beweissicherung wurde von uns Klage eingereicht.

Um den staatlichen Irrsinn nochmals zu überbieten, bekamen die Eingekesselten - auch wir - Ende Februar 2012 vom Versammlungsrechts-unkundigen Landratsamt Eichsfeld Anhörungs­bogen zugestellt, in denen die Teilnahme an einer „nicht angemeldeten und genehmigten Versammlung” vorgeworfen wird. „Dabei war Ihnen bekannt, dass die Veranstaltung durch Verfügung des Landratsamtes verboten worden war.” Weiter wird mit einer (gutwillig interpretiert: maximal missverständlichen) Formulierung behauptet, man sei in jedem Fall verpflichtet, den Anhörungsbogen mit Angaben zur Person, inklusive Beruf und Telefon­nummer, ausgefüllt zurück zu senden.
Absurder geht es kaum, wir empfehlen dem Heiligenstädter Rechts- und Ordnungsamt dringend die Lektüre des Versammlungs-, Verwaltungs- und Polizeirechts.

In eigener Sache:
Über die eindeutige Rechtslage von Polizeibeobachtung und die vielfältigen sich im Widersprich dazu befindlichen willkürlichen Be- und Verhinderungen unserer Arbeit berichten wir ausführlich unter BeobachterInnen - rechtlicher Status.

Medienberichte:


Update, 19.9.2015:

Das Verwaltungsgericht Weimar hat mit Urteil vom 23.06.2015 festgestellt, dass der Polizeikessel und die anschließende Personalienfestellung rechtswidrig war. (Siehe auch die Pressemitteilung „Umstrittener Polizeieinsatz mit Massen-Ingewahrsamnahme in Leinefelde am 03.09.2011 war rechtswidrig” vom 14.8.2015 und zugehörige Pressemeldungen.)
Der Freistaat Thüringen hat daraufhin einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt gegen das Urteil des VG Weimar vom 23.06.2015. Dieses Urteil folgt allerdings in seiner Rechtsauffassung einem Urteil des OVG Thüringen, das nun über die Zulassung der Berufung entscheiden muss.