Bürger*innen beobachten Polizei und Justiz

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(Please see English version below.)

Zunächst möchten wir kurz unsere Organisation und unsere Arbeitsweise vorstellen:

Unsere Gruppe wurde im Jahr 2010 gegründet. Der Fokus unserer Arbeit liegt auf dem Polizeiverhalten im Kontext von Versammlungen in Deutschland. Dafür dokumentieren wir Polizeimaßnahmen auf Video. Dieses Material wird ausschließlich als Beweismaterial aufgenommen für Gerichtsverfahren, die sich an Versammlungen anschließen. Beispiele sind Strafverfahren gegen Demonstrierende oder verwaltungsrechtliche Verfahren, in denen die Unrechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen festgestellt werden soll.

Im Fall außergewöhnlicher Ereignisse bei Versammlungen oder auch wenn die Polizei unzutreffende Erklärungen zu einem Ereignis abgibt, veröffentlichen wir Pressemitteilungen.

Wir sind gut vernetzt mit allen unabhängig organisierten und regelmäßig arbeitenden Beobachtungsgruppen in Deutschland. Diese Gruppen arbeiten mit unterschiedlichen Methoden. Keine dieser Gruppen verfügt über ein Budget oder bezahlte Stellen. Wir engagieren uns in unserer Freizeit auf ehrenamtlicher Basis ohne Honorar oder Aufwandsentschädigung.

Legt man als Maßstab die Empfehlungen des ODIHR zur Freiheit für friedliche Versammlungen an eine ganze Reihe von Ereignissen in Deutschland an, so erkennt man auch bei uns einen großen Widerspruch zwischen diesen Empfehlungen und der ausgeübten Polizeipraxis.

Bei der Ausübung unserer Beobachtungsmissionen in Deutschland seit 2010 haben wir viele Fälle von Verstößen gegen die ODIHR-Empfehlungen erfahren, die sich gleichermaßen gegen Versammlungsteilnehmer*innen wie auch gegen uns als Beobachter*innen richteten. Unsere Arbeit wird z.B. durch Personalienfeststellungen, Platzverweise und Dokumentationsverbote bis hin zur Drohung aufgrund einer angeblichen Begehung einer Straftat (StGB § 201) und der Beschlagnahme unseres Equipments behindert.

Die Ursache für unrechtmäßiges Polizeiverhalten sehen wir in strukturellen Problemen bei der Polizei und in einem Mangel an demokratischer Kontrolle der Polizeiarbeit.

Einige wichtige Punkte:

  • Bisher wurde in nur einigen Bundesländern eine individuelle Kennzeichnung eingeführt; bei der Bundespolizei, die oft zur Unterstützung bei Versammlungen angefordert wird, existiert diese ebenfalls nicht.
  • Ermittlungen in Fällen von unrechtmäßiger Polizeigewalt werden von Polizeikolleg*innen geführt, dies führt zu einer signifikant hohen Rate an Straflosigkeit. Ein Beispiel: Nach aktuellen Zahlen wurden im Zuge der Polizeieinsätze beim G20-Gipfel in Hamburg 168 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet. Inzwischen wurden 99 dieser Verfahren eingestellt, nur ein einziges Verfahren führte zu einer Verurteilung.
  • Es existieren in Deutschland keine tatsächlich von Exekutivorganen unabhängigen Kontrollstellen. Wo Beschwerdestellen existieren, sind diese bei den Innenministerien der Länder oder direkt bei oberen Polizeibehörden angesiedelt.
  • In Fällen von Polizeigewalt versagt die juristische Kontrolle des Öfteren, sogar bei Verdacht auf tödliche Gewaltausübung im Polizeigewahrsam (zum Beispiel drei Fälle in Dessau).

Weitere Aspekte:

  • Abgesprochene und von Vorgesetzten überarbeitete Aussagen von Polizeizeug*innen vor Gericht.(1)
  • Systematische strafrechtliche Beschuldigung von Opfern von unrechtmäßiger Polizeigewalt Widerstandshandlungen ausgeübt zu haben.(2,3)
  • Kaum überwindbarer Korpsgeist, selbst in Fällen ernsthafter Straftaten, die von Polizist*innen während der Ausübung ihres Dienstes im Kontext von Versammlungen begangen wurden.(4)
  • Mangel an Fehlerkultur bei der Polizei.(5)
  • Massive PR-Angriffe gegen die erste große wissenschaftliche Studie über Polizeigewalt aus Sicht der Opfer.(6,7)
  • Zunehmende Militarisierung der Polizei, z.B. militärisch ausgerüstete Sondereinsatzkommandos bei Versammlungen, gepanzertes Polizeifahrzeug mit aufmontiertem Schnellfeuergewehr bei Versammlungen.(8,9)
  • Zunehmende Zahl von Fällen rechtsextremer Einstellungen und Aktivitäten, bis hin zu Rechtsterrorismus(10,11,12); es existiert keine aktuelle wissenschaftliche Studie zu diesem Thema.


Diese Probleme wirken sich auch auf uns Beobachter*innen stark negativ aus. Bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das wir im Jahr 2015 erreichten, wurden wir oftmals mit einer Vielzahl an Begründungen in unserer Arbeit behindert. Das höchste deutsche Gericht stellte fest, dass es konkreter Verdachtsmomente bedarf, damit die Polizei gegen „Aufnahmen in Bild und Ton“ vorgehen darf. Nach diesem Gerichtsbeschluss hatten wir eine gewisse Bewegungs- und Arbeitsfreit und wurden oftmals von der Polizei toleriert.

Aber innerhalb der letzten 18 Monate behindert die Polizei wieder massiv die Arbeit von unabhängigen Beobachter*innen. Die aktuelle Strategie bedient sich sogar des strafrechtlichen Verdachts des Begehens einer unautorisierten „Verletzung des vertraulich gesprochenen Worts“. Ein kürzlich veröffentlichter juristischer Kommentar eines Richters am Landgericht Düsseldorf weist diese Strategie der Bedrohung und zur Verhinderung unserer Arbeit scharf zurück. Denn, so der Kommentar, bei internen Ermittlungen gegen Polizeibeamte herrsche eine „Mauer des Schweigens“ und vor Gericht ein starkes strukturelles Ungleichgewicht. Nur durch beweiskräftiges Videomaterial könne dies abgemildert werden und eine effektiv öffentliche Kontrolle des Polizeihandelns hergestellt werden.

Auch diese Strategie der Polizei gegen die Dokumentation ihrer Arbeit steht im Widerspruch zu den ODIHR-Empfehlungen zur Rolle von Beobachter*innen (Nr. 69 bis 71) und sie steht ebenso im Widerspruch zur aktuellen Interpretation des UN-Zivilpakts (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte - ICCPR).

Wir haben festgestellt, dass die Empfehlungen des ODIHR der breiten Öffentlichkeit in Deutschland völlig unbekannt sind, ebenso bei der Presse und auch bei den in Deutschland regelmäßig arbeitenden unabhängigen Beobachter*innen. Bei einem kürzlich stattgefundenen Treffen des deutschen Netzwerks der unabhängigen Beobachter*innen stellten wir deshalb die Empfehlungen des ODIHR zur Rolle von unabhängiger Beobachtung vor (Textversion von 2016). Das Plenum war sich darin vollkommen einig, dass der Widerspruch sehr groß ist zwischen den Empfehlungen und der Realität, die wir regelmäßig bei unseren Beobachtungsmissionen erleben.

Es würde uns Beobachter*innen und dem Recht auf friedliche Versammlung helfen, wenn das ODIHR eine aktive Pressearbeit in Deutschland entfalten könnte und gleichermaßen eine aktive Menschenrechtsbildungsarbeit in der Polizeiausbildung und Polizeifortbildung auch in Deutschland entwickeln würde.

Die deutsche Delegation laden wir gerne ein, die Ergebnisse unserer Praxis auf der Straße gemeinsam mit weiteren unabhängigen Expert*innen und Fachwissenschaftler*innen zu diskutieren. Das ODIHR könnte hier vielleicht eine moderierende Rolle übernehmen.

Vielen Dank.

[1] Beispiel aus einem Gerichtsurteil, wie sich Polizist*innen als Zeug*innen vorbereiten: https://twitter.com/beobachtung_goe/status/1188763903335026696

[2] Singelnstein/Puschke: „Polizei, Gewalt und das Strafrecht – Zu den Änderungen beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, NJW 2011, 3473 (3476)

[3] amnesty international, „Täter unbekannt – Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland“, 2010, S. 70ff.

[4] Singelnstein, „Körperverletzung im Amt durch Polizisten und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften – aus empirischer und strafprozessualer Sicht.“, in: Neue Kriminalpolitik (NK) 2014, S. 15 (21) m.w.N. (= mit weiteren Nachweisen)
https://www.nk.nomos.de/fileadmin/nk/doc/Aufsatz_NK_14_01.pdf

[5] Aden, „Die Kennzeichnung von Polizeibediensteten“, in: Die Polizei 2010 (Heft 12), S. 348 f., 351
https://www.researchgate.net/profile/Hartmut_Aden/publication/304743687_Die_Kennzeichnung_von_Polizeibediensteten/links/5779020908ae1b18a7e61d67/Die-Kennzeichnung-von-Polizeibediensteten.pdf

[6] https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zwischenbericht.pdf

[7] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/polizeigewalt-kommentar-zur-bochumer-studie-schlechter-stil-a-1286495.html

[8] Dieser Punkt steht im starken Widerspruch zum „Factsheet: Recommendations on managing assemblies“ of the Special Rapporteurs Maina Kiai and Christof Heyns to the Human Rights Council from March 2016, Punkt „Can firearms be used to disperse a violent assembly?“

[9] https://freiheitsfoo.de/2019/05/21/nds-sw4-mit-g8-demo

[10] https://twitter.com/tiisbosbi/status/1199392695321366528

[11] https://taz.de/Schwerpunkt-Hannibals-Schattenarmee/!t5549502

[12] https://www.tagesspiegel.de/berlin/innenminister-zu-defend-cottbus-polizisten-kannten-neonazi-zeichen-und-wollten-gezielt-provozieren/25294082.html

 


Comments of "Bürger*innen beobachten Polizei und Justiz" from Germany
at the Supplementary Human Dimension Meeting III on 21.-22. November 2019 in Vienna

We represent the civil rights organisation „Bürger beobachten Polizei und Justiz“ from Germany. This means: „Citizens monitor police and judiciary“.

First, we would like to introduce briefly our organisation and our working methods:

Our group was founded in 2010 and we document police measures in the context of assemblies on video. The focus of our work is on police conduct in the context of assemblies in Germany. For this purpose we document police measures on video. This material is taken exclusively for use as evidence in lawsuits at court. Examples are criminal proceedings against protesters or administrative proceedings which we pursue ourselves in order to determine the unlawfulness of certain measures.

In case of outstanding incidents or to contradict false statements made by police officials we publish press releases.

We are well networked with any other independent organized and regularly working assembly monitor groups in Germany. These groups work with different methods. None of these groups have a budget or paid positions. We volunteer in our leisure time without fee or expense allowance.

If one applies the recommendations of the ODIHR on freedom of peaceful assembly to a number of events in Germany as a basis, one recognizes also at ours a great contradiction between these recommendations and the conducted police practice.

While carrying out monitoring missions in Germany since 2010 we experienced many cases of infringements of the ODIHR recommendations which were addressed both to assembly participants and to us monitors. Our work is interfered for instance by identification of identity, bans and prohibitions of documentation up to the threat of an alleged criminal offence (StGB § 201) and the confiscation of our equipment.

We see the cause of unlawful police conduct in structural problems at the police and in insufficient democratic control of police operations.

Some important points:

  • Individual identification tags for police officers only in some federal states; no identification tags at the federal police, which is often requested for support during assemblies.
  • Investigations on cases of police violence conducted by other police officers result in a significant high rate of impunity. One example: According to current statistics, 168 investigations against police officers were initiated in the course of police operations at the G20 summit in Hamburg. In the meantime, 99 of these investigations have been dropped; only one single investigation resulted in a sentence.
  • In Germany exist no control instances which are independent from executive authorities. Where complaint-handling bodies exist, they are allocated at the interior ministries of the federal states or directly at higher police authorities.
  • Failing of judicial control in many cases of police violence, even on suspicion of deadly police violence while in police custody (for instance three presumptive cases in Dessau).

Additional aspects:

  • Coordinated and revised testimonials by policemen at court.(1)
  • Systematic accusation of a criminal offence on victims of police violence.(2,3)
  • Hardly overcomeable esprit de corps even in case of serious offences committed by police officers in the context of assemblies.(4)
  • Deficiency of a culture of error correction within the police.(5)
  • Massive PR attacks against the first scientific research on police violence from the viewpoint of the victims.(6,7)
  • Increasing militarization of the police, for instance militarily equipped special police forces at assemblies, armoured police vehicle with rapid-fire rifle at assemblies and football matches.(8,9)
  • Increasing number of cases of right-wing extremist attitudes and activities of police officers up to right-wing terrorism(10,11,12); no current scientific research on that issue.

These problems also have a strong negative effect on us monitors. Until a decision of the German Federal Constitutional Court, which we achieved in 2015, we were often obstructed in our work by a variety of reasons. The highest German court stated that concrete suspicions were necessary for the police to be authorized to take measures against "video and audio recordings". After this decision we had a certain degree of operational freedom and were tolerated by the police.

But within the last 18 months the police massively obstructs again the work of independent assembly monitors. The current strategy even uses the accusation of the punishable offence of "unauthorised violation of the confidential spoken word". A recently published legal commentary by a judge at the Düsseldorf Regional Court sharply rejects the current threats and obstructions of our work by the police. This is because, according to the commentary, there is a "wall of silence" in internal investigations against police officers and a strong structural inequality at court. Only with reliable video material this misconduct could be mitigated and an effective public control of police operations be achieved.

This strategy of the police against the documentation of their work also contradicts the recommendations of the ODIHR on the role of monitors (No. 69 to 71) and in addition it contradicts the current interpretation of the ICCPR.

We have noticed that the recommendations of the ODIHR are completely unknown to the general public in Germany, as well as to the press and the independent monitors working regularly in Germany. At a recent meeting of the German network of independent monitors, we therefore presented the recommendations of the ODIHR on the role of independent monitoring (text version of 2016). The plenary fully agreed that there is a strong contradiction between the recommendations and the reality we experience frequently in our monitoring missions.

It would help us monitors and the freedom of peaceful assembly if the ODIHR could evolve active press relations in Germany and evolve active human rights education in police training in Germany as well.

We would like to invite the German delegation to discuss the findings of our practice on the street together with other independent experts and specialists. The ODIHR could perhaps play a mediating role here.

Thank you.

[1] Example from a court decision on how police officers prepare as witnesses: https://twitter.com/beobachtung_goe/status/1188763903335026696

[2] Singelnstein/Puschke: „Polizei, Gewalt und das Strafrecht – Zu den Änderungen beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, NJW 2011, 3473 (3476)

[3] amnesty international, „Täter unbekannt – Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland“, 2010, S. 70ff.

[4] Singelnstein, „Körperverletzung im Amt durch Polizisten und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften – aus empirischer und strafprozessualer Sicht.“, in: Neue Kriminalpolitik (NK) 2014, S. 15 (21) m.w.N. (= mit weiteren Nachweisen / with further text sources)
https://www.nk.nomos.de/fileadmin/nk/doc/Aufsatz_NK_14_01.pdf

[5] Aden, „Die Kennzeichnung von Polizeibediensteten“, in: Die Polizei 2010 (Heft 12), S. 348 f., 351
https://www.researchgate.net/profile/Hartmut_Aden/publication/304743687_Die_Kennzeichnung_von_Polizeibediensteten/links/5779020908ae1b18a7e61d67/Die-Kennzeichnung-von-Polizeibediensteten.pdf

[6] https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zwischenbericht.pdf
A brief version in English language: https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviaPol_EN.pdf

[7] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/polizeigewalt-kommentar-zur-bochumer-studie-schlechter-stil-a-1286495.html

[8] This point strongly contradicts the „Factsheet: Recommendations on managing assemblies“ of the Special Rapporteurs Maina Kiai and Christof Heyns to the Human Rights Council from March 2016, Point „Can firearms be used to disperse a violent assembly?“

[9] https://freiheitsfoo.de/2019/05/21/nds-sw4-mit-g8-demo

[10] https://twitter.com/tiisbosbi/status/1199392695321366528

[10] https://taz.de/Schwerpunkt-Hannibals-Schattenarmee/!t5549502

[12] https://www.tagesspiegel.de/berlin/innenminister-zu-defend-cottbus-polizisten-kannten-neonazi-zeichen-und-wollten-gezielt-provozieren/25294082.html